Arten sterben vor der Haustür
Von Torsten Jäger
Nicht nur im fernen Regenwald, auch vor unserer Haustür findet ein selbstgemachtes Artensterben statt, über das viele schweigen, das jedoch ebenso fatale Auswirkungen haben wird.
Hier ein neues Baugebiet, dort eine Gewerbeansiedlung, anderswo eine Umgehungsstraße oder ein Parkplatz. Der Bau-Boom ist ungebrochen. Laut dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit werden in Deutschland täglich 62 Hektar als Siedlungs- und Verkehrsflächen ausgewiesen. Das entspricht der Größe von 88 Fußballfeldern - und das jeden Tag! Dadurch werden gewaltige Flächen versiegelt. Wiesen, Felder, Hecken und Bäume fallen dem Kahlschlag zum Opfer.
Hinzu kommen Rodungen, die der Landschaftspflege oder der Verkehrssicherungspflicht dienen. Oder es werden Gehölze entfernt, die schlicht im Weg stehen, Laub abwerfen und daher einfach ein Störfaktor sind.
Lebensräume von Insekten schwinden dramatisch
Die Folgen sind dramatisch. So hängt das Insektensterben auch damit zusammen, dass immer mehr blühende Sträucher, Bäume oder auch Wildkräuter dem Asphalt von Straßen, dem Beton von Siedlungen oder den steinernen Vorgärten zum Opfer fallen. Es können noch so viele Wildbienen-Hotels installiert werden - wenn den Tieren am Ende das Futter fehlt, reicht das nicht zum Überleben.
Auch die Bestände von Schmetterlingen gehen zunehmend zurück. Das ist kein Wunder, denn sie benötigen Futterpflanzen für ihre Raupen. Während die Raupen des Admirals die Blätter der Brennnessel vertilgen, brauchen die Raupen des Schwalbenschwanzes Fenchel oder Möhre. Der Wolfsmilchschwärmer benötigt zur Eiablage ein Wolfsmilch-Gewächs, das Gemeine Blutströpfchen legt seine Eier auf die Blätter des Hornklees. Somit sind viele Tag- und Nachtfalterarten spezialisiert auf eine oder wenige Raupen-Fraßpflanzen. Auch der ausgewachsene Falter (Imago) bevorzugt oft bestimmte Blühpflanzen und braucht ein entsprechendes Nahrungsangebot, um überleben zu können.
Doch nicht nur Bienen und Schmetterlinge, auch Käferarten und andere Insekten leiden unter den schwindenden Lebensräumen - auch unsere Vögel.
Die Bestände vieler Vögel brechen teils massiv ein
Die Feldlerche wurde zum Vogel des Jahres 2019 gekürt und steht auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten. Sie leidet vor allem unter der intensiven Landwirtschaft, in der immer mehr Hecken in den Feldern gerodet, Wiesen abgemäht oder in Ackerflächen umgewandelt werden.
Dabei ist die Feldlerche nur ein Symbol für den dramatischen Rückgang der Vögel: Auch die Bestände vieler anderer Vogelarten brechen zum Teil massiv ein. Es fehlen immer öfter Hecken und Sträucher als Futter- und Nistmöglichkeit. Die Ganzjahresfütterung bietet sich als Hilfsmaßname an. Doch an der Ursache des Problems ändert sie nichts: Es fallen einfach immer mehr natürliche Lebensgrundlagen unserer Vogelwelt wirtschaftlichen und baulichen Interessen zum Opfer.
Wenn große und alte Bäume abgeholzt werden, verlieren viele Eulen ihren Schlaf- oder Nist-Baum. Spechte sind auf Totholz angewiesen, in das sie ihre Höhlen bauen. Werden solche Bäume gefällt und durch neue ersetzt, fallen nicht nur die Lebensräume von Spechten weg. Auch Fledermäuse, die in Höhlen alter Bäume im Sommer ihre Wochenstuben einrichten, werden vor ein echtes Problem gestellt.
Es kommt selten vor, dass ein Vogel
zum zweiten Mal als »Vogel des Jahres« ausgerufen wird. Die Feldlerche, »Vogel des Jahres« 2019, war es schon einmal - und zwar 1998. Schon damals warnten Vogelschützer davor, dass der schöne Feldvogel seltener wird oder sogar vom Aussterben bedroht sein könnte. Seitdem ist mehr als jede vierte Feldlerche aus dem Brutbestand in Deutschland verschwunden. In den letzten 40 Jahren ist die Zahl der Feldlerchen in Europa sogar um mehr als die Hälfte zurückgegangen. · Bild: Shutterstock
Auch Igeln, Gartenschläfern, Fledermäusen und anderen Kleinsäugern fehlt immer mehr Lebensraum
Unter dem Wegfall von Sträuchern leiden auch Kleinsäuger wie Gartenschläfer, aber auch verschiedene Mäusearten. Igel finden immer weniger Futter, das aus Schnecken und Regenwürmern, aber auch Beeren, besteht. Asphalt, Steinvorgärten oder kahle Rasenflächen in Gärten bieten unseren stacheligen Freunden einfach nicht genügend Futter. Und auch Unterschlupfmöglichkeiten sind Mangelware, angesichts fehlender Hecken und ausgeräumter Gärten ohne Versteckmöglichkeiten.
Da in einem Ökosystem die Arten untereinander in einer Abhängigkeit stehen, schafft die Not der einen Art ebenso Not bei der anderen. Gehen Insektenbestände zurück, fallen Futterquellen für Singvögel und Fledermäuse weg. Gehen die Singvogel- und Nagetierbestände zurück, leiden die Greifvögel darunter. Gibt es weniger bestäubende Insekten, werden die Wildsträucher weniger Samen und Früchte ausbilden, was einen Futtermangel für Vögel und Nager bedeutet.
Naturschutz muss vor unserer Haustür beginnen
Natur- und Artenschutz muss vor unserer Haustür beginnen. Die Ganzjahresfütterung der Singvögel, das Anbringen von Spaltkästen für Fledermäuse oder Nistkästen für Singvögel sind Möglichkeiten, wie jeder Einzelne aktiv werden kann. Wir können unsere Gärten aufblühen lassen, Blumen für Insekten und Beerensträucher für die Vogelwelt pflanzen, Wildkräutern und Wildblumen Platz im Garten bieten, ebenso Unterschlupfmöglichkeiten für Igel (und kein Schneckenkorn verwenden, das ist Gift für die stachligen Schneckenjäger!)
Doch so lange kommunale Verwaltungen die These vertreten, man könne einen bestehenden Lebensraum einfach abholzen und durch Ersatzpflanzungen ersetzen, so lange muss auch der öffentliche Druck wachsen. Schließlich braucht eine Neuanpflanzung Jahre oder gar Jahrzehnte, bis sie den ökologischen Nutzen des zuvor abgeholzten Biotops bieten kann. So lange können dessen vertriebene Bewohner oftmals nicht überstehen, denn ihre Ausweichmöglichkeiten sind aufgrund des Flächenfraßes ohnehin begrenzt.
Es muss klar werden, dass es grundsätzlich Lebensräume zu erhalten gilt, und dass sie eben nicht einfach leichtfertig Gewinn optimierenden Interessen geopfert werden dürfen.
Die Devise: »Wir haben keine zweite Erde!« darf nicht nur für den Schutz des tropischen Regenwalds in weiter Ferne gelten. Denn ist es nicht zynisch, wenn wir andere Staaten aufgrund ihres Umgangs mit der Natur verurteilen, während wir selbst den Artenschutz vor unserer Haustür ohne Not mit Füßen treten?
Ist es nicht an der Zeit, die Stimme zu erheben für unseren Planeten? Jede Rodung, jeder Kahlschlag und jede Vernichtung von Lebensraum darf einfach nicht mehr unkommentiert bleiben. Die Redaktionen der Tageszeitungen sind oft offen für solche Beiträge. Und wenn politische Entscheidungsträger etwas fürchten, dann ist es schlechte Publicity.
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