Die Intelligenz der Hunde
Die internationale Forschung hat sich in den letzten Jahren zunehmend mit der Intelligenz von Hunden beschäftigt und dabei so manches bestätigt, was Hundefreundinnen und Hundefreunde längst wussten: Hunde denken viel komplexer als gedacht. Aber: Was genau ist Hundeintelligenz? Wie misst man sie? Haben wir dazu überhaupt die richtigen Werkzeuge und Vergleichsmaßstäbe? Sind »Menschenschläue« und »Hundeschläue« überhaupt vergleichbar? Und in welchen Bereichen haben Hunde andere oder viel mehr geistige Kompetenzen als wir?
Die Reporterinnen-Neugier von Jennifer Holland, die für das Magazin der National Geographic Society, die New York Times und die Washington Post schreibt, wurde von all diesen Fragen geweckt. In unterhaltsamem Erzählstil nimmt uns die Journalistin und Hundefreundin mit auf eine spannende Investigativ-Recherche voller spannender, interessanter und überraschender Begegnungen, um den Geheimnissen der Hundeintelligenz auf die Spur zu kommen: Sie beobachtet die unglaublichen Fähigkeiten von Spürhunden und die Intelligenz von Polizeihunden. Sie lässt sich von einem Blindenführhund durch New York lotsen. Und sie spricht mit Hundetrainern, Hundeexperten und Wissenschaftlern darüber, wie wir Intelligenz bei einer anderen Spezies definieren können. Eine der Kernfragen ist: Wo treffen und wo unterscheiden sich »Instinkt« und »Intelligenz«?
»Es ist zwar verständlich, dass wir uns auf das Lernen unserer Worte als primäres Zeichen hündischer Intelligenz versteifen, aber das Handeln auf Kommando ist nur ein kleiner Teil von hundeschlau«, schreibt die Journalistin.
Intelligent in Sachen Mensch: Schau mir in die Augen
Als Jennifer Holland den berühmten Kognitionsethologen Prof. Marc Bekoff fragt, was seiner Meinung nach der Kern der Intelligenz bei Tieren ist, antwortet er: »Anpassungsfähigkeit.« Anpassungsfähigkeit erfordert Kreativität, Problemlösungsdenken und die Flexibilität, sich in komplexen Situationen zurechtzufinden, die Fähigkeit zu lernen, sich zu erinnern und je nach Kontext kluge Entscheidungen zu treffen.
»Hunde, wie auch andere Tiere, die gelernt haben, von unserer Anwesenheit zu profitieren, führen ein besonders kreatives, durchdachtes und flexibles Leben. Ein intelligentes Leben«, schreibt Jennifer Holland. Intelligenz bedeutet für Hunde auch, die Vorteile einer Beziehung einer anderen Art - uns Menschen - voll auszuschöpfen. So haben Hunde im jahrtausendelangen Zusammenleben mit uns eine Muskulatur entwickelt, um ihre inneren Augenbrauen zu heben und ihren berühmten Hundeblick zu zeigen, weil Menschen mit ihren Fürsorgeinstinkten auf diesen Blick reagieren - und ihre vielen Ressourcen mit dem Hund teilen. Dies ist »intelligente Anatomie«. Wölfe können diesen Blick nicht erzeugen. Bei Hunden dagegen können bereits kleine Welpen Signale von Menschen »lesen« - und mit ihrem Hundeblick unsere Herzen erobern. Das enge Zusammenleben mit Menschen seit der Steinzeit hat die DNA der Hunde darauf programmiert, mit uns in Kontakt zu treten.
Zwischen Hund und Mensch findet echte Kommunikation statt: nicht nur mit Blicken, Worten und Lauten sowie Körpersprache, sondern sogar über Hormone. »Wenn sich Hund und Mensch in die Augen schauen, erleben beide einen Schub an Endorphinen, Dopamin und Prolaktin - allesamt Wohlfühlhormone im Gehirn - sowie Oxytocin, das so genannte „Liebeshormon“«, erklärt die Autorin. Dieses Phänomen wird als »blickvermittelte hormonelle Rückkopplungsschleife« bezeichnet - und die funktioniert genauso wie zwischen menschlichen Müttern und ihren Babys. Wenn sich Hund und Mensch in die Augen schauen, fühlen sich beide glücklich. Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit und verstärkt sich. Auch wenn wir einen Hund streicheln, werden Glückshormone ausgeschüttet und Stresshormone wie Cortisol und Insulin abgebaut - sogar die Herzfrequenz und der Blutdruck beruhigen sich und senken sich nachweislich.
Wie schlaue Hunde schlauer werden
»Die Saat für die Intelligenz eines Hundes, so wie wir sie zu verstehen pflegen, ist immer vorhanden«, so Jennifer Holland. Natürlich sind Hunde wie wir Menschen Individuen. Und so wie bei uns gibt es superschlaue, schlaue und nicht ganz so schlaue. Und wie bei Menschenkindern können wir einem Welpen durch entsprechende Anleitung und Umgebungen die Chance geben, seine Fähigkeiten zu zeigen und zu entwickeln.
Die moderne Forschung zeigt dabei sehr deutlich, dass Stress und Angst das Lernen und die Leistung beeinträchtigen - bei Menschen wie bei Hunden (und bei allen anderen Tieren). Und: Hunde wollen, genau wie wir Menschen, Erfolg haben. Sie möchten unser Lob, sie möchten, dass wir mit ihnen zufrieden sind. Darum sollten wir unserem Hund (wie unseren Kindern) Erfolgserlebnisse ermöglichen.
Forschungen mit Magnetresonanztomographie deuten darauf hin, dass Hunde wie wir einen speziellen Bereich im Gehirn nur für Mathematik haben: Wie wir Menschen verfügen sie über einen neuronalen Mechanismus für Mengenwahrnehmung. Hunde müssen den Überblick über die Zahl ihrer Welpen in einem Wurf behalten oder die Mitglieder ihres Rudels oder ihrer menschlichen Familie. Wahrscheinlich verfügen alle Säugetiere über »numerische Kompetenz«, haben also die Fähigkeit, Mengen zu verstehen und einzuschätzen.
Manchmal ist es intelligent, nicht zu tun, was einem gesagt wird
»Blindenführhunde sind vermutlich die bekanntesten Idole unter den superklugen Hunden«, schreibt Jennifer Holland. Um ihre Fähigkeiten kennenzulernen, besucht sie »The Seeing Eye«, eine Organisation, die Blindenführhunde ausbildet.
Melissa Altmann, die seit ihrer Geburt blind ist und auf einen Blindenstock angewiesen war, bekam 2017 die Labradorhündin Luna von der Organisation vermittelt. Die Begegnung mit Luna sei eine der wichtigsten Erfahrungen in ihrem Leben, erzählt Melissa. »Ich bin nicht mehr in einer Kiste gefangen. Ihre Fähigkeiten und unrere Verbindung haben meinem Leben eine neue Dimension gegeben.« Blindenführhunde sind darauf trainiert, extrem auf ihren einen Menschen konzentriert zu sein und alles zu ignorieren, was nicht unmittelbar die beiden betrifft. »Sobald man diese Verbindung hergestellt hat, strömt alles den Führbügel entlang wie über einen Telefondraht«, berichtet Melissa. »Es ist ein Gespräch, das für andere manchmal unsichtbar ist, weil der Hund seine Sprache durch das Geschirr spricht.« Ein erfahrener Hundeführer reagiere ganz natürlich und unmittelbar auf die Signale des Hundes, erfahren wir weiter. Und der Hund liest die Körpersprache, Handzeichen und den Tonfall seines Menschen, um den Kommunikationsaustausch zu vervollständigen.
Um die Fähigkeit von Blindenführhunden selbst zu erleben, ließ sie sich die Autorin mit verbundenen Augen - also quasi blind - von einer Hündin durch die Straßen von New York führen. Und sie beobachtete die Hunde bei Ausbildungseinheiten. In einer Ausbildungssituation führten die Trainer ihre Hunde an den Rand eines U-Bahn-Gleises und befahlen ihnen, vorwärts zu gehen, obwohl das gefährlich gewesen wäre. Die Hunde weigerten sich - und wurden gelobt.
»Manchmal besteht Intelligenz auch darin, nicht das zu tun, was einem gesagt wird«, erklärt Jennifer Holland. »Wie ich bei meinen Begegnungen mit Blindenführhunden und ihren Trainern gelernt habe, wissen Hunde manchmal mehr als ihre Menschen.« Die Idee des »intelligenten Ungehorsams« war für die Autorin eine von vielen Überraschungen, was Intelligenz bei Hunden wirklich bedeutet: »Ein Blindenführhund muss diese Art von Intelligenz einsetzen und sich auf sein eigenes Urteilsvermögen verlassen, sonst wird er bei seiner wichtigsten Aufgabe versagen: die Sicherheit seines Menschen zu gewährleisten. Denn wenn Sie nicht sehen können, dass ein Auto um die Ecke biegt, Ihr Hund aber schon, sollte er sich besser weigern, Sie auf die Straße zu führen - auch wenn Sie darauf bestehen, sie genau jetzt zu überqueren.«
Intelligenten Ungehorsam brauchen nicht nur Blindenhunde: Auch Sprengstoff-Spürhunde müssen in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, entscheiden, ob sie dem Befehl des Hundeführers folgen oder ihren eigenen Sinnen - in erster Linie ihrem Geruchssinn - gehorchen. »Wenn die Nase des Hundes etwas anderes sagt, muss er meinen Fokus ignorieren und seiner Nase folgen, und zwar willentlich. Wenn nötig, sollte er mich aus dem Weg schieben«, erklärt der Verhaltensneurowissenschaftler und Diensthundetrainer Dr. Stewart Hilliard. Die Hunde müssten lernen, auf den Hundeführer zu hören, aber auch bereit sein, sich zu weigern, wenn er falsch liegt.
Disziplinierte Arbeit oder Spiel: Ein intelligenter Hund kennt den Unterschied
Polizeihunde müssen auf Kommando einen Menschen angreifen und beißen können. Dies sei das Schwierigste in der Ausbildung dieser Hunde, lässt sich die Autorin von einem Spezialisten für die Ausbildung von Polizeihunden erklären: Einen Menschen zu beißen stehe im Widerspruch zu den Freundschaften mit Menschen, welche die Hunde aufgebaut haben.
Hunde, die darauf trainiert werden, einen Bösewicht zu verfolgen und zu Boden zu bringen, sind keine aggressiven und keine »scharfen« Hunde, sondern besonders diszipliniert. »Ein Polizeihund im Dienst ist ein knallharter Hund«, erklärt ein Ausbilder. »Wenn das Blaulicht und die Sirene angehen, schaltet er sofort in den Arbeitsmodus, und seine Verbindung zu dir im Dienst ist so intensiv, dass er deinen Herzschlag kennt. Aber wenn die Scheinwerfer ausgehen, ist er Teil der Familie und spielt mit deinen Kindern.« Ein intelligenter Hund zeichne sich dadurch aus, dass er den Unterschied kenne.
Selbstbeherrschung: Zeichen von Intelligenz
Selbstbeherrschung ist für jeden intelligenten Hund ein wesentlicher Bestandteil seines Instrumentariums. Psychologen zählen Selbstkontrolle zu den »exekutiven Funktionen«, den grundlegenden geistigen Fähigkeiten, die zur Bewältigung des Alltags benötigt werden. »Studien an Menschen haben übereinstimmende Parallelen zwischen der exekutiven Funktion und den Ergebnissen allgemeiner Intelligenztests festgestellt, erklärt Jennifer Holland in ihrem Buch »Hundeschlau«. »Eine hohe Exekutivfunktion kann sogar ein genauerer Indikator für den Erfolg in vielen Lebensbereichen sein als der IQ.« Und wahrscheinlich passen bei Hunden die grundlegenden geistigen Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags und die allgemeine Intelligenz ebenso zusammen.
Gemeinsam in verschiedenen Welten
In den vielen tausend Jahren, welche Hunde uns Menschen begleiten, sind sie genetisch und entwicklungsbedingt ganz klar darauf vorbereitet, in einer von Menschen gestalteten Umgebung zu leben, sich uns als Familie anzuschließen und von uns zu lernen. Unsere gemeinsame Umgebung nehmen Hunde aber ganz anders wahr als wir. Sie verfügen über andere sensorische Datenerfassungsmechanismen: den ausgeprägten Geruchssinn, die Beweglichkeit der Ohren und die Empfindlichkeit der Tasthaare. Auch die Zunge und die Pfoten des Hundes sammeln Informationen. »Das Gehirn ist der Ort, an dem sensorische Informationen gesammelt, sortiert, klassifiziert und gespeichert werden und an dem Entscheidungen getroffen werden«, erklärt Jennifer Holland. »Deshalb sollten wir diese Systeme als sensorische Intelligenz und nicht nur als Sinnesrezeptoren betrachten. Als ich untersucht habe, wie sich die Sinneswelt der Hunde von unserer unterscheidet, wurde mir klar, dass wir ziemlich ahnungslos sind, was das Erleben eines Hundes wirklich ausmacht.«
Es beginnt mit dem Gehör: Menschen können Frequenzen bis 20.000 Hertz wahrnehmen, Hunde bis zu 65.000 Hertz. Ihre Lautstärkeempfindlichkeit ist viermal höher als unsere. Dank ihrer guten Ohrbeweglichkeit können sie die Quelle von Geräuschen genau ausmachen. Die Hörempfindlichkeit von Hunden erklärt auch, warum Hunde bei alltäglichen Geräuschen wie dem Staubsauger in Stress geraten können - nicht nur, weil er für sie einfach laut ist, sondern auch, weil viele elektronische Geräte hohe Töne abgeben, die wir nicht hören, die Hunde aber schon.
Hunde sind dafür bekannt, dass sie sehr gut Fährten verfolgen können. Und sie können darauf trainiert werden, einen vermissten Menschen nur durch seinen Geruch (zum Beispiel an einem Kleidungsstück) zu finden. Außerdem gibt es erstaunliche Berichte von Hunden, die weite Wege zurücklegten, um nach Hause zu einem geliebten Menschen zu finden. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass Hunde offenbar über eine Art »inneren Kompass« verfügen. So beobachtete ein Forschungsteam, dass im Wald frei gelassene Hunde einen »Kompasslauf« entlang der geometrischen Nord-Süd-Achse starteten. Offenbar synchronisierten sie so ihre mentale Karte mit dem magnetischen Kompass, was ihren half, den richtigen Weg zu finden.
Hunde denken mit der Nase
Ihr außerordentlicher Geruchssinn lässt Hunde Leistungen vollbringen, die wir kaum begreifen können: Sie können nicht nur Fährten lesen und vermisste Menschen finden. Spürhunde erschnüffeln Drogen, Giftstoffe, Trüffel-Pilze oder Nester von seltenen Schildkröten. Sie können sogar Krankheiten wie Epilepsie, Diabetes oder Krebs am Geruch erkennen.
Ihre Nase ist für Hunde das wichtigste Instrument, um ihre Umgebung wahrzunehmen. Die Geruchs-Anatomie von Hunden ist beeindruckend, aber was im Gehirn vor sich geht, ist noch viel beeindruckender: »Hunde erkennen, sortieren, kategorisieren und reagieren auf Gerüche mit Hilfe kognitiver Fähigkeiten wie Gedächtnis, Unterscheidung, Bewertung und Auswahl«, erläutert Jennifer Holland. Hunde denken quasi mit der Nase. Sie machen sich »Schnupperbilder« von ihrer Umgebung, von anderen Hunden und von Menschen.
Der Geruchssinn ist für Hunde sogar der Schlüssel zu ihrer Selbsterkenntnis. Lange hieß es, Hunde würden sich im »Spiegeltest« nicht selbst erkennen. Doch eine Schnupper-Variante des Spiegeltests bestanden sie sofort. So wurde wissenschaftlich nachgewiesen: Hunde haben ein eigenes Bewusstsein und erkennen sich selbst als Ich.
Jeder Hund ist ein Individuum
Es gibt nicht »den Hund« - jeder einzelne Hund auf diesem Planeten hat seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Freuden, Ängste und Fähigkeiten. Wir müssen die Persönlichkeit und die Vorlieben unseres eigenen Hundes kennen, damit wir für sein körperliches, emotionales und kognitives Wohlbefinden sorgen können. »Unsere Beziehung zu unseren Hunden ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen«, schreibt die Autorin am Ende ihres Buches. »Aber wenn es darum geht, ihnen ein gutes und hundegerechtes Leben zu bieten, das ihre vielfältigen Intelligenzen fördert, könnten wir Menschen es vertragen, weniger zu nehmen und mehr zu geben.«
Die Autorin
Jennifer S. Holland ist eine US-amerikanische Wissenschaftsautorin und Naturschutzbiologin. Als Journalistin schreibt sie regelmäßig für die New York Times und die Washington Post. Für das Magazin der National Geographic Society bereiste sie die Welt und schrieb über Naturgeschichte, Tierverhalten, Artenschutz und die Schönheit wilder Orte - um den Tieren und der Natur eine Stimme zu geben. Als Sachbuchautorin wurde sie bekannt durch den New York Times-Bestseller »Unlikely Friendships«, der unter dem Titel »Ungleiche Freunde« auf Deutsch erschien und mit ergreifenden Bildern Freundschaften zwischen Tieren unterschiedlicher Arten beschreibt. |