Faszinierendes Portrait: Der Wolf - Ein Grenzgänger zwischen Natur und Kultur
Buchvorstellung von Julia Brunke, Redaktion FREIHEIT FÜR TIERE
Der Wolf, im letzten Jahrhundert durch gnadenlose Verfolgung bei uns ausgerottet, ist auf leisen Pfoten zurückgekommen und findet erstaunlicherweise Heimat mitten in unserer Kulturlandschaft. Doch seine Gegenwart polarisiert: Auf der einen Seite die Wolfsfreunde, welche die majestätischen wilden Hunde lieben und ihren Beitrag zur Biodiversität schätzen, dort die Wolfsgegner, allen voran Nutztierhalter und Hobbyjäger, die lautstark den Abschuss fordern. Obwohl der Wolf zu den am besten untersuchten Wildtierarten gehört und zahlreiche wissenschaftliche Studien über ihn erschienen sind, gibt es also weiterhin viel Aufklärungsbedarf.
Mit seinem neuen Buch »Der Wolf - Ein Grenzgänger zwischen Natur und Kultur« möchte der renommierte Zoologe Prof. Dr. Heinrich Haller den Wölfen eine Stimme geben - mit atemberaubenden Fotografien und erklärenden Texten. Außerdem möchte er Lösungen zeigen, wie ein friedliches Zusammenleben mit dem Wolf gelingen kann: »Wölfe gehören zur einheimischen Fauna und haben daher ein Lebensrecht«, erklärt Prof. Haller, der sich seit mehr als 50 Jahren mit dem Wolf beschäftigt.
Heinrich Haller, langjähriger Direktor des Schweizerischen Nationalparks, zeigt den Wolf in erster Linie im Alpenraum und insbesondere aus der Perspektive der Schweiz, aber auch aus anderen Ländern des riesigen Verbreitungsgebiets mit völlig voneinander abweichenden Lebensbedingungen: in Skandinavien, im Himalaja oder in Nordamerika. Das Besondere: Alle Fotografien wurden von Heinrich Haller in freier Natur aufgenommen - in direkter Begegnung und nicht durch Kameras mit automatischer Selbstauslösung oder Fotofallen. »Ich suchte das unverfälschte persönliche Erlebnis durch die direkte Anschauung.« In seinem 216 Seiten starken großformatigen und über 1,5 Kilo schweren Bildband stellt er Wölfe in den Alpen vor und zeigt ihren Lebensraum mit den dort lebenden Tieren: Gämsen, Rehe, Rothirsche, Füchse, Steinadler und Kolkraben gehören zur Begleitfauna des Wolfes. Hinzu kommen beeindruckende Aufnahmen von freilebenden Wölfen, die Heinrich Haller in den weitläufigen Wäldern Finnlands, im Yellowstone Nationalpark und auf dem Tibet-Plateau gemacht hat.
Die Texte in dem Bildband informieren und interpretieren, leuchten Hintergründe aus und beschreiben den Wolf als vielfältiges, verborgenes Wildtier, das in seiner Umwelt einschließlich des Menschen erhebliche Resonanzen auszulösen vermag. Dabei behandelt Heinrich Haller die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe ebenso wie die ökologischen Aspekte und klärt auf sachlicher, fachübergreifender Grundlage über ein Thema auf, das immer wieder für Debatten sorgt.
Begegnung im Morgengrauen: Ein Wolf in nur 30 Metern Entfernung!
»Den frühen Morgen des 14. August 2023 werde ich nicht vergessen, da er mir eine meiner einprägsamsten Wolfsbegegnungen beschert hat: Noch bei Dunkelheit bin ich mit dem Fahrrad in der Landschaft Davos mit dem Ziel unterwegs, die Entwicklungen beim ersten Davoser Wolfsnachwuchs der Gegenwart zu dokumentieren«, berichtet Heinrich Haller. Weil ein abgestelltes Auto zu auffällig gewesen wäre, benutzt der Zoologe das Fahrrad, um am Ausgangspunkt seines geplanten Fußmarsches keine Zeichen seiner Anwesenheit zu geben. Denn der Aufenthaltsort der Wolfswelpen soll vor ungebetenen Gästen geheim gehalten werden.
So radelt Heinrich Haller im Licht seiner Stirnlampe, als ihn plötzlich zwei reflektierende große Augen aus nur 30 Metern Entfernung ansehen. »Ich stoppe sofort, nehme das Fernglas hoch - und bin Auge in Auge mit einem der beiden Altwölfe! Die Umrisse des Kopfs und besonders die aufrecht stehenden Ohren zeichnen sich im Lichtstrahl ab. Ich genieße den Moment im Wissen, dass sich die Szene in Sekundenschnelle verflüchtigen wird. Und tatsächlich entschwindet der Wolf, vermutlich das Vatertier, umgehend mit federnden Sprüngen in der Dunkelheit.«

Wolfsrudel in der Landschaft Davos
Wölfin F153 und der Wolfsrüde M244 haben in der Landschaft Davos, inneralpin gelegen an der Grenze zwischen Ost- und Westalpen im Kanton Graubünden, fünf Welpen zur Welt gebracht. »Seit mehr als 200 Jahren der erste Wolfsnachwuchs in der Landschaft Davos«, schreibt Heinrich Haller zu diesem Foto. »Die Fähe F153 ist aufmerksam geworden und verharrt kurz, widmet sich aber gleich wieder ihren Jungen.« (30. Juli 2023) · Alle Bilder: ©Heinrich Haller
Wölfe suchen eine Heimat in unserer Kulturlandschaft
In seiner Jugend hatte Heinrich Haller in Davos gelebt und war an genau dieser Stelle tausendmal vorbeigekommen. Damals hätte er nie im Leben daran gedacht, in dieser typischen Kulturlandschaft einem Wolf zu begegnen. Denn in seiner Jugend waren Wölfe in der Schweiz durch jahrhundertelange menschliche Verfolgung noch ausgerottet.
Außerdem: »Die Vorstellung, wie der Lebensraum für den Wolf auszusehen hat, war zu jener Zeit gewöhnlich eine andere. Dass dieser nicht nur ein Symbol für Wildnis und große zusammenhängende Waldgebiete ist, sondern auch in durch Menschen und ihre Kultur geprägten Räumen vorkommt, war im lange Zeit so gut wie wolfsfreien Mitteleuropa in Vergessenheit geraten.«
In Osteuropa dagegen, wie zum Beispiel in Rumänien, wo Wölfe nicht komplett ausgerottet wurden, sind die Menschen an die Anwesenheit von Wölfen gewöhnt. Auch in Italien waren schon vor Jahrzehnten »Spaghetti-Wölfe« in den Außenbezirken von Rom auf Müllhalden bei der Suche nach Nahrung zu beobachten.
Wölfe gehören wie Hunde und Füchse zur Gattung der Caniden. Die schlauen Füchse haben schon vor Jahrzehnten unsere Großstädte als Lebensraum erobert: Sie stellten fest, dass es sich in Metropolen wie London, Zürich, München oder Berlin gut leben lässt - und dass hier keine tödliche Verfolgung durch Jäger droht. Stadtfüchse haben ein völlig entspanntes Verhältnis zu den menschlichen Stadtbewohnern. Sie liegen auf der Parkbank oder in der Hollywood-Schaukel und wissen, wann an der Frittenbude etwas für sie abfällt. In den Städten zeigt sich so etwas wie »Nationalpark-Effekt«: Füchse und andere freilebende Tiere lassen sich am helllichten Tag beobachten und zeigen ein entspanntes und verspieltes Verhalten. Längst sind unsere Großstädte zu Inseln der Artenvielfalt inmitten der Agrarwüste geworden.
Alle Caniden sind äußerst anpassungsfähige Wesen, die sich im Umfeld des Menschen gut zurechtfinden können. »Nicht umsonst sind die Haushunde, allesamt Nachfahren des Wolfs, zu unseren treuesten Begleitern geworden«, schreibt Heinrich Haller. »Das den Wölfen und ihren Abkömmlingen eigene Sozialverhalten, ihre dadurch mitbedingte ökologische Toleranz oder besser noch Flexibilität schaffen die Voraussetzungen für eine hohe Plastizität im Umgang mit verschiedenen Lebensbedingungen.«
Wölfe können also sehr gut in unserer Kulturlandschaft leben - und sie erfüllen hier wertvolle ökologische Aufgaben. Dennoch: »Nach wie vor wird der Wolf in die überwiegend menschenleere, weit entfernte Wildnis - wo immer die sein soll - zurückgewünscht«, so der Zoologe. Dabei seien die riesigen Waldgebiete des Nordens, die oft als typische Lebensräume für Wölfe angesehen werden, in Wirklichkeit gar nicht so attraktiv - es gibt schlicht zu wenig Nahrung.
Wölfe gehören zur Fauna der Alpen ebenso wie zur Fauna ganz Mitteleuropas. Wenn wir von Ländern in Afrika fordern, dass sie Löwen oder Tiger schützen, dann müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Und Wölfe sind deutlich weniger konfliktträchtig als Tiger und Löwen.
Die Rückkehr der Wölfe: Widerstand, vor allem von Nutztierhaltern und Jägern
»Rund vier Jahrzehnte Wolfspräsenz in den Alpen, seit 1995 auch in der Schweiz, haben nicht genügt, um seine ökologische Rolle im Bewusstsein der breiten Bevölkerung zu verankern«, schreibt Prof. Haller. Der Wolf ist ein hoch emotionales Thema, das polarisiert. Woran liegt das?
Der Wolf ist nach dem Menschen der wirkungsvollste Beutegreifer. Einerseits ist er damit ein Konkurrent für die Hobbyjäger, welche »ihre« für den Abschuss gehegten Rehe nicht dem Wolf überlassen möchten. Anderseits fangen Wölfe immer wieder im Freien gehaltene sogenannte Nutztiere, zumeist Schafe, was die Nutztierhalter gegen ihn aufbringt. Natürlich werden diese Schafe nicht aus reiner Tierliebe gehalten, sondern in erster Linie für die Fleischproduktion. In der Schweiz wurden Vereinigungen gegen den Wolf gegründet, allen voran der »Verein Lebensraum Schweiz ohne Großraubtiere«. Und es wurden sogar Volksabstimmungen gegen den Wolf durchgeführt.
Wie kann das Zusammenleben mit dem Wolf gelingen?
Schafe, die auf großen Weiden im unübersichtlichen Gelände weitgehend sich selbst überlassen sind, ohne durchgehend elektrifizierten Zaun, sind bei Wolfspräsenz im wahrsten Sinne des Wortes ein gefundenes Fressen. »Das Nebeneinander von Wolf und Weidewirtschaft ist anspruchsvoll, doch gilt auch hier: Wo ein Wille ist, ist ein Weg«, so Heinrich Haller.
Die wichtigste Voraussetzung für eine breite Akzeptanz von Wölfen in der Kulturlandschaft ist ein gut entwickelter Herdenschutz: mit Hirten, Herdenschutzhunden und wolfssicheren Zäunen, die durchgehend elektrifiziert und hoch genug sind. »Herdenschutz wirkt. Er ist anerkannt das beste Mittel, um Wolfsübergriffe auf Nutztiere zu bekämpfen«, erklärt der Zoologe. »Klar scheint, dass der Erfolg des Herdenschutzes von der Motivation der Tierbesitzer und der Hirtinnen und Hirten abhängt.« Er führt das Schlappintal in der Ostschweiz als positives Beispiel an: Hier haben sich die Hirten mit der Bedrohung durch den Wolf arrangiert und betreiben konsequenten Herdenschutz. Nachdem 2022 bei ungenügenden Schutzmaßnahmen 45 Schafe Opfer von Wölfen wurden, bewachen seit 2023 Herdenschutzhunde die Schafe und es gibt bessere Zäune. Im Alpsommer 2023 wurden hier trotz Wolfspräsenz keine Schafe gerissen.
Das Fazit des langjährigen Direktor des Schweizerischen Nationalparks am Ende seines Buches lautet: »Ich plädiere für weniger Polarisierung und mehr Gelassenheit. Der Wolf ist zurück: Wir müssen wieder lernen, mit ihm umzugehen - selbstverständlich respektvoll und fair.«
Der Autor
![]() |
Prof. Dr. Heinrich Haller, Jahrgang 1954, ist ein Schweizer Zoologe und Buchautor. Er war 24 Jahre lang Direktor des Schweizerischen Nationalparks.
· Der Kolkrabe - Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie. Haupt Verlag, 2022 · Wilderei im rätischen Dreiländereck. Haupt Verlag, 2016 · Atlas des Schweizerischen Nationalparks. Haupt Verlag, 2014 |