Tierfindlinge – Was tun?
Von Jürgen Plass
Fast jeder, der sich intensiver mit der Natur und den darin frei lebenden Tieren beschäftigt, ist früher oder später mit dieser Herausforderung konfrontiert: einem pflegebedürftigen Jungtier. Die Situationen sind sehr unterschiedlich: Nester verschiedener Vogelarten stürzen ab, Eichhörnchenkobel werden beim Heckenschneiden freigelegt, die Kinder bringen einen vermeintlich verwaisten jungen Feldhasen oder Waldkauz nach Hause. Ein Jungbiber, der bei seinen ersten Schwimmversuchen oder Hochwasser abgetrieben wurde und verlassen am Ufer sitzt, wird ohne menschliche Hilfe nicht überleben. Auch junge Fischotter und Fuchswelpen, die nach dem Verlust des Muttertieres auf der Suche nach Nahrung umherirren, werden es ohne Unterstützung nicht schaffen. Dann ist guter Rat teuer.
Bereits vor über 30 Jahren (1992) habe ich zu diesem Thema eine Broschüre mit dem Titel »Wildtiere aufziehen und auswildern - aber wie?« veröffentlicht. Nachdem diese Auflage vergriffen war, riet mir ein befreundeter Tierarzt, die Publikation neu herauszubringen. Die Neuauflage »Tierfindlinge« erschien 2000 im österreichischen Agrarverlag und 2006 in 2. Auflage im Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart.
Inzwischen hat die Entwicklung der tierpflegerischen Kenntnisse auch im Bereich Wildtier-Findelkinder nicht Halt gemacht. Zahlreiche Publikationen sind dazu erschienen, geeignete Aufzuchtnahrung, unterstützende Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel wurden weiterentwickelt. Vielerorts gibt es auf bestimmte Wildtiere spezialisierte Privatinitiativen und Wildtier-Auffangstationen, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen zum Teil auch über eigene Webseiten weitergeben.
Hilflosen Jungtieren helfen: Eine moralische Pflicht
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich die Sicht auf unsere heimischen Wildtiere verändert. Dazu hat der bekannte österreichische Wildtierethiker Prof. Rudolf Winkelmayer in der Neuauflage »Tierfindlinge« in einem eigenen Kapitel diese moderne Sichtweise auf unseren Umgang mit Wildtieren dargelegt. Er beantwortet die Frage, ob man einem Jungtier, das unverschuldet in menschliche Pflege geraten ist, helfen soll, eindeutig mit »JA«. Es bestehe sogar die moralische Pflicht, dies zu tun!
»Erste Hilfe« bei Wildtieren: Aber wie?
Wer »Erste Hilfe« bei einem Wildtier-Findelkind leisten und vielleicht auch das Jungtier aufziehen möchte, sollte sich gut informieren. Oberstes Ziel sollte immer sein, das Wildtier, sobald es selbstständig ist, wieder in die Freiheit zu entlassen.
Ich beobachte in den letzten Jahren immer wieder, dass falsche Ansätze im Umgang mit den Wildtier-Findelkindern zu Fehlprägungen führen können, was die spätere Auswilderung unmöglich macht. Oder Jungtiere werden zwar optimal mit passender Nahrung aufgezogen, dann aber viel zu lange in ungeeigneter Umgebung (Voliere) gehalten, worauf die Aussichten auf eine erfolgreiche Re-Integration in die Natur drastisch sinken.
Wertvolle Tipps & Hinweise in der Neuauflage »Tierfindlinge«
In der völlig überarbeiteten Neuauflage »Tierfindlinge« finden Sie in einem allgemeinen ersten Teil alles Wissenswerte zu: Erste Hilfe, Ernährung, Futtermittel und Fütterungstechniken, Unterbringung, Prägung und Auswilderung.
Im speziellen Teil über Wildvögel wird zuerst unterschieden, ob es sich um Nesthocker, Nestflüchter oder Platzhocker handelt. Daran schließen sich die Beschreibungen der verschiedenen Vogelfamilien mit ihren speziellen Bedürfnissen an. Von den Nesthockern sind Reiher, Dommeln und Störche, Greifvögel, Tauben, Eulen, Mauersegler, Rackenvögel (Eisvögel), Spechte, Kleinvögel (Singvögel) und Rabenvögel beschrieben, von den Nestflüchtern Schwäne, Gänse und Enten, Hühnervögel, Rallen und Trappen sowie Watvögel, von den Platzhockern Möwen und Seeschwalben.
Auch bei den Säugetieren erfolgt zuerst die Unterscheidung von Nesthockern und Platzhockern, gefolgt von Ratschlägen über den sozialen Umgang mit jungen Säugetieren. Von den Nesthockern werden folgende Arten/Familien näher behandelt: Igel, Fledermäuse, Wildkaninchen, Eichhörnchen, Mäuse, Bilche (Siebenschläfer), Hundeartige (Rotfuchs), Marderartige und Kleinbären (Waschbär). Die Platzhocker umfassen Biber, Feldhase, Wildschwein, Reh, Rothirsch und Damhirsch.
Auch die Rettung gefundener Reptiliengelege, vor allem von Äskulap- und Ringelnatter, wie auch die Anlage künstlicher Eiablageplätze wird näher beschrieben.
Ergänzt wird das Buch durch Adressen im Internet, die Ihnen weiterhelfen können und verschiedene Präparate und Geräte zur Jungtieraufzucht.
Wildtier-Findlinge: Erste Hilfe
So wie bei der Ersten Hilfe beim Menschen mit der ABC-Regel (Atmung, Bewusstsein, Circulation/Herzmassage) gilt es auch bei der Erstversorgung von Jungtieren drei elementare Bereiche zu beachten:
1. Aufwärmen
Ein Jungtier wird bei unzureichender Befiederung bzw. noch schütterem Fell, auch wenn eher milde Witterung herrscht, sehr schnell auskühlen. Der Findling fühlt sich »eiskalt« an und bewegt sich praktisch nicht mehr. Er gibt auch keine Lautäußerungen mehr von sich. Alles deutet darauf hin, dass das Tier bereits tot ist. Zeigt sich aber vielleicht doch ein Lebenszeichen, ist das Jungtier durch rasche Wärmezufuhr in vielen Fällen noch zu retten.
Erste verfügbare Wärmequelle wird immer die hohle Hand sein. Eine sehr gute Erwärmung erreicht man auch dadurch, indem das Tier an die (nackte) Brust gehalten wird.
Wenn Sie versuchen, ein ausgekühltes Jungtier zu füttern, wird das auf jeden Fall misslingen. Erstens reagiert das Tier nicht auf den Futterreiz und andererseits funktioniert auch die Verdauung nicht richtig.
Zu Hause übernimmt dann eine Tischlampe oder ein Taschenofen diese Funktion. Wenn Sie einen Rotlichtstrahler verwenden, dann wählen Sie einen entsprechend großen Abstand. Eine Wärmeflasche ist zuerst zu heiß, kühlt dann aber wieder sehr rasch ab. Auch Wärmekissen sind oft zu heiß. Sehr gut bewährt hat sich eine Moor-Wärmflasche, die entweder in heißem Wasser oder in der Mikrowelle erhitzt wird. Sie hält die Wärme sehr lange und ist so weich, dass man leicht eine Nestmulde formen kann.
Beim Mauersegler ist bei Nahrungsmangel und kalter Witterung ein so genannter »Hungerschlaf« zu beobachten. Er fällt dabei durch Herabsetzung der Körpertemperatur in eine Starre, in der ältere Nestlinge einige Tage ohne Nahrungszufuhr verharren können. Auch junge Hermeline fallen unter +10 bis +12 °C in eine Kältestarre, in der sie längere Zeit überdauern können. Auch sie erholen sich in warmer Umgebung wieder sehr rasch.
Das Jungtier ist jetzt wieder »aufgetaut«, gut durchblutet und munter. Wie geht es nun weiter?
2. Rehydrieren: Mit Flüssigkeit versorgen
eim Fund eines Jungtiers weiß man nicht, seit wann
das Tier ohne Flüssigkeit auskommen musste. Auch bis zur professionellen Erstversorgung vergeht mehr oder weniger viel Zeit, in der das Junge durch die fehlende Nahrung und die Stresssituation weiter austrocknet.
Ist der Findling wieder auf Normaltemperatur gebracht, dann hat sich folgende Mischung bewährt:
· In 200 ml abgekochtem Wasser oder Tee (Fenchel, Anis, Kümmel, Kamille) werden zwei Teelöffel Traubenzucker (zur Not geht auch normaler Zucker) und eine kleine Prise Salz aufgelöst. Hat man das nicht zur Hand, dann einfach Wasser verwenden.
· Die Lösung auf Körpertemperatur abkühlen lassen. Anschließend mit einer Spritze oder Pipette aufziehen.
· Bei Jungvögeln tropfenweise an der Schnabelspitze abstreifen. Von dort gelangt genug Flüssigkeit in den Schnabel, die vom Vogel geschluckt wird, was man ja durch das auffällige Schlucken gut beobachten kann. Diesen Vorgang mehrmals wiederholen.
Achtung: Niemals bei Kleinvögeln Flüssigkeiten direkt in den Schnabel tropfen. Diese würden unweigerlich in die Lunge gelangen, was meist den Tod der Tiere zur Folge hat.
· Bei jungen Säugetieren wie Igeln (Bild unten) die Flüssigkeit, auch immer nur wenige Tropfen, mit einer feinen Spritze in den Mundwinkel oder auf die Lippen träufeln. Das Jungtier dabei in waagrechter oder leicht aufrechter Position halten, so kann keine Flüssigkeit in die Lunge gelangen (keine Rückenlage).
Füttern
Im Gegensatz zu Auskühlung und Flüssigkeitsverlust übersteht ein Pflegling geraume Zeit ohne Nahrung. Dieses Defizit kann er in der weiteren Entwicklung ohne Spätfolgen wieder aufholen. Erst jetzt, nach Aufwärmen und Rehydrieren, wird versucht, dem Jungtier geeignetes Futter anzubieten.
Tierbabys sind total süß, keine Frage. Aber man sollte sie nur dann »retten« , wenn es wirklich notwendig ist, denn sie sind - wie alle Tiere - bei ihrer Mutter am besten aufgehoben.
Daher ist es wichtig, das vermeintliche Findelkind erstmal an Ort und Stelle (oder in der Nähe des Ortes, wenn dieser zu gefährlich ist, wie zum Beispiel eine Straße) zu belassen und aus größtmöglicher Entfernung das Ganze eine Zeit lang zu beobachten, um zu sehen, ob die Mutter zu ihrem Kind zurückkommt. · Bild: Pim Leijen - Shutterstock.com
Hilfe brauchen junge Wildtiere nur dann, wenn sie schwer verletzt oder zweifelsfrei verwaist sind. Daher gilt: Wenn das Tier nicht in unmittelbarer Gefahr ist, lassen Sie es zunächst in Ruhe! Fassen Sie es vor allen Dingen nicht an! Es könnte daraufhin von seiner Mutter nicht mehr angenommen werden.
Informationen: Wildtier-Auffangstationen
Wildvögel: wildvogelhilfe.org Mauersegler: www.mauersegler.com Eulen und Greifvögel: eulen-greifvogelstation.at Aufzucht von Rehkitzen: www.rehkitzhilfe.de |
Das Buch
»Tierfindlinge« ist ein Ratgeber zur fachgerechten Versorgung von in Not geratenen Jungtieren.
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