Was Tiere denken: Intelligenz und Emotion in der Wildnis

Löwen besitzen erstaunliche kognitive Fähigkeiten, von komplexer sozialer Interaktion und Koordination bis hin zu strategischem Denken und bemerkenswerten Fähigkeiten zur Problemlösung.
Sie verfügen über ein breites Spektrum an Kommunikationsformen und können komplexe Informationen akustisch und nonverbal über Körpersprache übermitteln. · Bild: Christian Brosche - Shutterstock.com
Buchvorstellung von Julia Brunke, Redaktion FREIHEIT FÜR TIERE
Wir fangen gerade erst an, zu begreifen, dass das Gehirn von Tieren ähnlich komplex ist wie unser eigenes. Die Warnrufe von Präriehunden etwa sind nicht nur hektische Pfeiftöne, sie übermitteln damit differenzierte Nachrichten. Gorillas nutzen Zeichensprache, um vergangene Ereignisse zu schildern - wissen sie also, was heute, gestern und morgen ist? Nicht nur Primaten oder Elefanten, selbst kleinste Ameisen, denen man einen Farbtupfer auf dem Kopf angebracht hat, wollen diesen loswerden, sobald sie in einen Spiegel blicken - ein Beweis für ihr Ich-Bewusstsein, das Menschen erst ab dem zweiten Lebensjahr entwickeln. In ihrem Buch »Was Tiere denken - Intelligenz und Emotion in der Wildnis präsentiert Marianne Taylor 60 Tierarten, ihre bemerkenswerten kognitiven Fähigkeiten, ihre Gefühle und ihre ausgefeilte Kommunikation. Tauchen sie mit informativen Texten über die unglaublichen Fähigkeiten von Tieren und über 80 beeindruckenden Fotos von renommierten Naturfotografen ein in die faszinierende Tierwelt unseres Planeten!
Das menschliche Gehirn ist nicht das einzige mit hoher Leistungsfähigkeit
Das menschliche Gehirn ist das mysteriöseste aller Organe und bis heute nicht völlig erforscht. Die moderne Neurobiologie erklärt, dass bewusstes Denken - also das, was wir als Verstand bezeichnen - vor allem in der grauen Substanz der Großhirnrinde, dem cerebralen Cortex, stattfindet. In den Windungen und Furchen dieser dünnen, weichen Schicht sind über 15 Milliarden Nervenzellen angesiedelt.
»Doch unser Verstand ist fehlbar. Er kann uns, etwa per Egomanie, kognitiver Dissonanz oder Selbsttäuschung, in die Irre zu führen«, schreibt Marianne Taylor. So nehmen wir an, der Verstand von Tieren wäre eine einfachere, mangelhaftere und unflexiblere Version unseres eigenen. »Wir denken selten darüber nach, ob Tiere einen Verstand haben, der etwas kann, was wir nicht können, oder ob sich ihre Intelligenz auf eine Weise ausdrückt, die unser Verstand nicht erfassen und beurteilen kann.« Doch die Wissenschaft sorgt in den letzten drei Jahrzehnten für immer neue Überraschungen, wie komplex die Gehirne von Tieren arbeiten. Und zwar nicht nur bei Menschenaffen mit ihren großen Gehirnen, sondern bei allen anderen Säugetieren bis hin zu Mäusen und Fledermäusen, aber auch bei Vögeln, Fischen, Kraken bis hin zu Bienen und Ameisen. »Viele Tiere sind ganz offensichtlich in hohem Maße in der Lage, zu lernen, denken, planen, sich zu erinnern und zu rationalisieren, und ihre kognitiven Fähigkeiten sind für ihr eigenes Überleben und die Fülle ihrer Lebenserfahrungen genauso wichtig die die unseren für uns«, so Marianne Taylor in ihrem neuen Buch.
Und jetzt kommt das Spannende: Die Größe des Gehirns ist gar nicht immer entscheidend, sondern die Anzahl der Neuronen und damit die Leistungsfähigkeit. Vielleicht können wir es Vergleichen mit der Größe von Computern und Speichermedien: Heute leistet ein kleines Mobiltelefon die Arbeit eines Computers - und auf einen kleinen Ministick passt die Datenmenge einer ganzen Festplatte (beziehungsweise von drei, vier und noch mehr Festplatten, wie sie vor 20 Jahren im Einsatz waren). »Das Gehirn eines Raben wiegt etwa 14 Gramm, das eines Schimpansen etwa 400 Gramm, doch diese Spezies haben in einer Reihe von Tests vergleichbare kognitive Leistungen gezeigt und bewiesen, dass es nicht (alleine) auf die Größe des Gehirns ankommt, sondern auch auf die Entwicklung und Struktur seiner Komponenten, wie sie organisiert und miteinander verschaltet sind«, erklärt Marianne Taylor in ihrem Buch.

Rabenvögel beeindruckten die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufs Neue mit ihren erstaunlichen Leistungen:
Sie können sich in Artgenossen hineinversetzen, verwenden zielgerichtet Werkzeuge und zählen grundsätzlich zu den intelligentesten Tieren überhaupt, so dass man sie mitunter auch als gefiederte Menschenaffen bezeichnet. Sie können komplexe Aufgaben lösen, Werkzeuge verwenden und sogar eigene Werkzeuge bauen. · Bild: Marcin Perkowski - Shutterstock.com
Raben: Superhirn im kleinen Schädel
Wir Menschen nehmen an, dass die kognitiv leistungsfähigsten Tiere die mit den großen Gehirnen sind, Gehirnen, die dem menschlichen Gehirn ähneln, mit einem gewundenen cerebralen Cortex und grauer Substanz. Je gewundener und gefurchter der cerebrale Cortex ist, desto mehr Oberfläche hat er und desto mehr Hirnzellen haben Platz. »Wenn wir das menschliche Gehirn als Maßstab setzen, ist ein stark gewundener präfrontaler Cortex die anatomische Voraussetzung für Intelligenz«, so Marianne Taylor.
Deswegen dachte man lange, allenfalls Menschenaffen hätten so etwas wie Verstand und Bewusstsein. Dann stellte man fest, dass »höhere« Säugetiere wie Elefanten ebenfalls über große kognitive Fähigkeiten verfügen. Nun haben Elefanten ein sehr großes Gehirn. Mit der Zeit zeigte die Wissenschaft, dass immer mehr Tiere ganz offensichtlich über Intelligenz verfügen: Sie gebrauchen Werkzeuge, sie erkennen sich im Spiegel, sie lösen in Versuchen komplexe Aufgaben. Alle Säugetiere bis hin zur Maus verfügen über einen gewundenen cerebralen Cortex mit grauer Substanz und somit unzähligen Neuronen.
Vogelgehirne sind nicht nur winzig klein, sie haben auch keinen cerebralen Cortex. Wie kann dann ein Rabe kognitive Fähigkeiten besitzen, die denen von Primaten entsprechen oder diese sogar übertreffen? »Kolkraben sind „nur“ Vögel und in ihrem 5 Zentimeter langen Schädel findet sicherlich kein Superhirn Platz, oder?«, fragt Marianne Taylor. Und sie erklärt: »Um das zu verstehen, müssen wir uns das Pallium genauer ansehen, den Hirnmantel, aus dem sich bei Säugetieren der Cortex bildet.
Im Laufe der Entwicklung eines menschlichen Fötus schichten und winden sich die beiden Hälften (Hemispären) des Palliums immer stärker und bilden den cerebralen Cortex sowie andere Strukturen, wie den Hippocampus, voll aus. Ein voll entwickeltes menschliches Gehirn wiegt etwa 1500 Gramm, hat etwa 86 Milliarden Neuronen und macht etwa 2 Prozent unserer Körpermasse aus.«
Vögel haben ein kleines Gehirn und keinen gewundenen Cortex. Schaut man sich aber ihr Pallium genauer an, stellt man fest, dass seine Neuronen viel kleiner sind als die eines Säugetiergehirns. Diese Minineuronen sitzen dicht an dicht und ergeben so eine unglaublich hohe Gesamtzahl. So ist die Zahl der Neuronen im Cortex eines Kolkraben höher als bei so manchem intelligenten Primaten. »Und das macht ihn zu einem geradezu beängstigend cleveren Vogel«, schreibt die Vogelforscherin. Ein Kolkrabe kann zum Beispiel die Gedanken eines anderen Raben »lesen«. Er merkt, ob ihn ein anderer Rabe beobachtet - zum Beispiel beim Verstecken einer Nuss - und ändert sein Verhalten entsprechend: er versteckt die Nuss nur scheinbar oder gräbt sie wieder aus, sobald der andere Rabe weg ist, und versteckt sie woanders. Raben können sich offenbar mit anderen Raben austauschen, was an einem Ort geschieht oder wo sie Futter gefunden haben. »Sie können auch physikalische Probleme lösen (etwa ein Werkzeug benutzen, um an eine versteckte Belohnung zu kommen) - und zwar ohne Trial-and-Error. Sie begreifen sehr schnell, was getan werden muss, und tun es dann konsequent.« Und sie kommt zu dem Schluss: »Wir beginnen gerade erst, der Intelligenz der Vögel den Respekt entgegenzubringen, den sie verdient.«

Kiefernhäher können sich in ihren kleinen, aber extrem leistungsfähigen Gehirnen die genaue Position von Tausenden Futterverstecken merken.
Vogelgehirne sind eng mit Mini-Neuronen bepackt: Die Neuronendichte bei Singvögeln übertrifft die von Säugetiergehirnen bei Weitem. Bild: Jeremy Christensen - Shutterstock.com
Kiefernhäher und Schwarzkopfmeisen: Phänomenales Gedächtnis
Der Kiefernhäher hat ein Erinnerungsvermögen, das hochtrainierte menschliche Gedächtnissportler locker übertrifft. Der grau-schwarze Krähenvogel lebt in den Rocky Mountains. Im Herbst versteckt er etwa 90.000 Samen der Weißstämmigen Kiefer und der Pinyon-Kiefer als Vorrat für den kalten Winter über 24 Kilometer im Boden. In jedem Versteck lagert er nur vier oder fünf Samen, um die Verluste zu begrenzen, falls andere Vögel oder Eichhörnchen sein Versteck plündern.
»Studien haben gezeigt, dass er sich ganz genau erinnern kann, wo ein Vorrat liegt, selbst neun Monate nach dem Anlegen (obwohl nach etwa sechs Monaten die Erinnerungsrate deutlich abzufallen beginnt)«, schreibt Marianne Taylor. »Es ist auch erwiesen, dass Kiefernhäher sich an zwei auffälligen gegenständlichen Markierungen in direkter Nähe zu ihrem Versteck orientieren (einem bestimmten Felsen und einem bestimmten Baumstumpf zum Beispiel - irgendetwas, das selbst aus hohem Schnee herausragt). Sie können das Depot punktgenau finden, weil sie sich an die Winkel erinnern, die es im Dreieck mit den beiden Markierungen bildet.«
Ein anderer Vogel, der jeden Herbst unzählige Samen auf zahlreiche Verstecke verteilt als Wintervorrat anlegt, ist die nordamerikanische Schwarzkopfmeise. Forscher haben herausgefunden, dass ihr Gehirn dabei neue Neuronen und neuronale Wege bildet und um etwa 30 Prozent anwächst. »Dieser unglaubliche Vorgang spielt sich hauptsächlich im Hippocampus ab, der Hirnregion, die für Gedächtnisbildung und Orientierung zuständig ist«, erfahren wir weiter. Während dieses Prozesses werden »alte« Neuronen entsorgt. Offenbar waren hier alte (und nun leere) Verstecke gespeichert, so dass die Erinnerung nutzlos ist. Und höchstwahrscheinlich funktioniert das Gehirn des Kiefernhähers ähnlich.

Sturmwellenläufer - sie heißen so, weil sie knapp über dem Wasser flattern und mit ihren Schwimmfüßen die Wellen berühren und hervorragend mit stürmischem Wetter klar kommen - fliegen Tausende Kilometer über das offene Meer.
Und doch finden sie jedes Jahr zielsicher in dieselbe Brutkolonie, oft sogar dieselbe Nisthöhle, zurück - sie haben ein eingebautes Navigationssystem. ·
Sturmwellenläufer: Eingebautes Navigationssystem
Sturmwellenläufer, deren deutscher Name bis 2019 »Sturmschwalbe« lautete, gehören zu den kleinsten, in vieler Hinsicht aber beeindruckendsten Meeresvögeln: »Während viele andere Meeresvögel mit kräftigen Flügelschlägen unterwegs sind, flattern die Sturmwellenläufer fledermausartig knapp über dem Wasser, lassen ihre langen, zarten Beine baumeln und berühren mit ihren kleinen Schwimmfüßen die Wellen - daher rührt ihr Name«, erklärt die Vogelforscherin. Und wie ihr Name auch schon sagt, kommen sie hervorragend mit stürmischem Seewetter zurecht und fliegen fernab vom Festland oder Inseln über die Meere.
Sturmwellenläufer sind keine Zugvögel, die auf einer festgelegten Route in ihre Sommer- oder Winterquartiere reisen, sondern sie vagbundieren über die Meere. Doch jedes Jahr kehren sie in dieselbe Brutkolonie - oft sogar dieselbe Nisthöhle - zurück. Sie können weit über 30 Jahre alt werden.
Wenn ein junger Sturmwellenläufer sein Nest verlässt, fliegt er auf das Meer hinaus und setzt monatelang keinen Fuß an Land. »Er kann schwimmen und sich bei ruhiger See auf dem Wasser ausruhen, doch die meiste Zeit verbringt er in der Luft und in brutfreien Monaten legt er riesige Distanzen zurück«, erfahren wir weiter. Selbst während der Brutsaison sind Sturmwellenläufer im Umkreis von bis zu 300 Kilometern von ihrem Nest auf Nahrungssuche unterwegs.
Wie finden sie auf dem dem offenen Meer so zielsicher ihren Weg? Sturmwellenläufer verfügen über einen hervorragenden Geruchssinn: Sie haben auffallende Nasenröhren und analysieren Gerüche in den großen Riechkolben ihres Gehirns. So nutzen sie ihren Geruchssinn, um ihre Nester an Felsenküsten oder Inseln wiederzufinden, denn zum Schutz vor Greifvögeln fliegen sie meist nur in der Nacht zu ihren Küken. Auch wenn sie über die Meere ziehen, bewegen sie sich in einer Welt aus unzähligen Duftspuren. »Ihre Fähigkeit, die verschiedenen Düfte der unterschiedlichen Meereszonen wahrzunehmen und miteinander zu vergleichen, muss ihnen eine detaillierte „Geruchskarte“ liefern, anhand derer sie zur rechten Zeit, wo immer sie sind, eine exakte Route nach Hause triangulieren können«, erklärt Marianne Taylor.
Das Navigationskönnen von Vögeln versetzt Forscher immer wieder ins Erstaunen: Zugvögel orientieren sich tagsüber optisch an Landmarken. Außerdem haben sie einen eingebauten Magnetkompass. Manche Vögel haben ihren Kompass im Schnabel, der Partikel des Minerals Magnetit enthält, das auf Magnetfelder reagiert. Rotkehlchen haben ihren Kompass im Auge: In den Photorezeptorzellen der Netzhaut ist Cryptochrom 4 enthalten, dessen Magnetsensor durch blaues Licht aktiviert wird.
Zugvögel orientieren sich außerdem an den Sternen. An der Cornell University wurde mit Indigofinken in einem Planetarium nachgewiesen, dass sie sich nicht an den Bewegungen einzelner Sternbilder orientieren, sondern daran, wie sich sämtliche Sterne um den fixen Polarstern drehen.
Elefanten: Ausgezeichnete Problemlöser
Wir Menschen sind ausgezeichnete Werkzeugbenutzer - nicht nur dank unseres Gehirns, sondern auch, weil wir zwei geschickte Hände haben. Die Hand-Gehirn-Verbindung eröffnet somit uns Menschen vielfältige Möglichkeiten, in unsere Welt einzugreifen.
Was für uns die Hand-Gehirn-Verbindung ist, ist für Elefanten die Rüssel-Gehirn-Verbindung: Elefanten können mit ihrem Rüssel Blätter in den höchsten Bäumen ernten, Bäume fällen, Wasser ganz gezielt verspritzen, sich mit ihrem Rüssel und einem Zweig den Rücken kratzen, einander liebkosen... Der Rüssel eines Elefanten ist lang und stark, aber auch unglaublich feinfühlig. So wie Menschenkinder lernen, mit ihren Händen immer geschickter zu werden, üben junge Elefanten, ihren Rüssel immer präziser zu führen.
So lernen Elefanten, dass man Wasser dazu benutzen kann, um Wasser zu lenken. Marianne Taylor berichtet in ihrem Buch vom »Wasserkrug-Test«, den ein Forschungsteam mit zwölf Zooelefanten durchführte. Dabei wurde beobachtet, ob die Elefanten herausfinden, dass sie mit einem Krug mehr Wasser in ein Rohr füllen können, damit eine darin schwimmende Leckerei nach oben steigt und somit in ihre Reichweite kommt. Elf Elefanten kamen nicht darauf. »Der zwölfte, Shanti, löste das Problem sofort (mit Verstand, nicht nach der Trial-and-Error-Methode) und ließ ein Marshmallow aufschwimmen, indem er Wasser nachfüllte«, berichtet Marianne Taylor.
Anschließend wollte das Forschungsteam herausfinden, ob die Elefanten voneinander lernen können und somit eine Veranlagung für soziales Lernverhalten haben. »Einer der Elefantenkühe, Chandra, zeigten die Pfleger, wie sie durch Wassernachfüllen an ihre Belohnung kam, und sie lernte schnell. Als die anderen Elefanten sahen, dass sie ihre Aufgabe meisterte, gingen sie die Sache selbst viel interessierter und beharrlicher an.«
»Elefanten besitzen auch das nötige kognitive Verständnis, um Objekte an eine bestimmte Stelle zu bewegen und zu Stufen zu stapeln, um hoch hängende Früchte zu erreichen«, lesen wir in »Was Tiere denken«. »Wir bewundern Elefanten vor allem wegen ihrer engen sozialen Bindungen und ihrer großen Empathie, doch Versuche wie diese zeigen uns, dass sie auf ihre umsichtige, abwägende Art clevere Problemlöser sind.«

Präriehunde verfügen über ein komplexes Kommunikationssystem und verwenden verschiedene Alarmrufe verwenden, um einander vor Gefahren zu warnen.
Für den Menschen tönen die Rufe nahezu gleich. Doch analysiert man ihre Schallwellen am Computer, bemerkt man klare Unterschiede: Sie beschreiben Größe, Gestalt, Farben, Geschwindigkeit und die Art der Bedrohung. · Bild: Georgi Baird Shutterstock
Präriehunde: Spezifische Kommunikation
Präriehunde, auch Erdhörnchen genannt, verwenden eine große Bandbreite charakteristischer Rufe. Der Verhaltensbiologe Con Slobodchikoff hat ihre Lautäußerungen jahrzehntelang erforscht. Er stellte fest, dass sie ganz spezifische Rufe verwenden, um die anderen auf eine Gefahr und den Grad der Gefahr hinzuweisen. So reagierten die Erdhörnchen auf den Pfiff für »Kojote« schneller und ängstlicher aus auf den Pfiff für »Hund«. In einem Versuch ließen Slobodchikoff und sein Team verschiedene Menschen in verschiedenfarbigen T-Shirts und Hunde verschiedener Rassen nacheinander an einer Präriehund-Kolonie vorbeilaufen. Anschließend ließen sie die Lautäußerungen durch ein spezielles Computerprogramm. »Das Ergebnis warf die Forscher um«, berichtet Marianne Taylor. Denn die Präriehunde komprimierten in ihrem Pfiff, der kaum eine Zehntelsekunde dauerte, genaue Informationen über Größe, Gestalt und Farben der vorbeilaufenden Menschen und Hunde. »Auch aus der Frequenz der Rufe ließen sich Informationen ableiten - auf eine schnell gehende Person reagierten die Präriehunde mit schnell aufeinanderfolgenden Pfiffen, auf eine schlendernde mit einer langsameren Ruffolge.« Der Verhaltensbiologe Con Slobodchikoff ist überzeugt, dass sprachenähnliche Kommunikation unter Tieren verbreiteter ist, als wir Menschen annehmen, und dass wir dies bei noch mehr Tieren entdecken werden, wenn wir unsere Decodierungsmethoden verfeinern.
Soziale Intelligenz und Fürsorge unter Tieren
Für uns Menschen ist Fürsorge ein hoher Wert. Die größte Rolle spielt bei uns Fürsorge in der Familie, der Eltern zu ihren Kindern. Aber wir sind auch zu spontaner Fürsorge gegenüber völlig Fremden fähig, ja sogar zur Selbstaufopferung, ohne dafür eine Belohnung oder Anerkennung zu erwarten.
Marianne Taylor untersucht in ihrem Buch die Fürsorge unter Tieren. Die meisten Beispiele von Fürsorge und Altruismus seien unter Verwandten zu beobachten: »Hauptsache, das Überleben der eigenen und respektive der familiären Gene ist garantiert«, so versuchen es Wissenschaftler zu erklären. Aber mal ehrlich: Wären wir Menschen damit einverstanden, wenn unsere Fürsorge in der Familie auf eine Sicherstellung des Überlebens der eigenen Gene reduziert würde? Und: Kann es nicht sein, dass Tiere zu ihren Kindern, Geschwistern, Eltern, Onkeln und Tanten aus dem gleichen Grund Fürsorge zeigen wie wir Menschen - ganz einfach, weil wir sie lieben?
Wissenschaftler der University of Bristol trennten in einem Versuch Hühnermütter von ihren Küken, sorgten aber dafür, dass sie sich noch sehen konnten. Anschließend wurden die Küken mildem Stress ausgesetzt (man richtete einen Luftstrahl auf sie). Sobald die Hühnermutter sahen, dass ihre Küken unsicher wurden, zeigten sie im Vergleich zur Kontrollgruppe, bei der die Küken nicht unter Stress gesetzt wurden, eindeutige physiologische Reaktionen: Ihre Herzfrequenz erhöhte sich, die Körperkerntemperatur stieg, sie zeigten Besorgnis, gackerten eindringlicher und nahmen eine wachsame Haltung an. »Mitgefühl und Mitleid drückten sich körperlich aus. Es ist gar nicht so weit hergeholt, wenn wir annehmen, dass die Gefühle der Glucken denen ähnelten, die uns überfluten, wenn unsere Kinder in Bedrängnis sind«, schreibt Marianne Taylor. Dieses Ergebnis sollte uns aus einem weiteren Grund nachdenklich stimmen: Wir halten Hühner im Allgemeinen für recht einfältig und stumpfsinnig. Wenn nun aber diese Vögel zu wahrer Empathie fähig sind, wie steht es dann um Hunde oder Delfine oder Elefanten?«
Vielleicht kennen Sie auch die beeindruckenden Aufnahmen, wie sich Steppenbüffel zusammentun, um Kälber vor den Angriffen von Löwen zu schützen: Sie bilden einen schützenden Ring um Mutter und Kind und halten die Löwen mit gesenkten, hornbewehrten Köpfen auf Abstand. Hat ein Löwenrudel eine Mutter und ihr Kind eingekreist, stürzt sich die Büffelherde geschlossen auf sie und vertreibt die Großkatzen. Dabei riskiert jeder einzelne Büffel durchaus sein eigenes Leben, denn Löwen können als hervorragende Taktiker blitzschnell ihren Plan ändern und einen erwachsenen Büffel angreifen. »Trotzdem triumphieren der Gemeinschaftssinn und die Fürsorglichkeit«, lesen wir in »Was Tiere denken«, denn Steppenbüffel verteidigen auch verletzte Artgenossen wild entschlossen.
Unter Tieren ist aber auch immer wieder Fürsorge und Selbstlosigkeit über die Familie hinaus zu beobachten - und zum Teil sogar über Artgrenzen hinaus: »Ein Tier übernimmt spontan die Fürsorge für ein oder mehrere Junge, die nicht mit ihm verwandt sind oder sogar einer anderen Spezies angehören«, erklärt die Tierforscherin. »Bei Haustieren ist das sehr verbreitet. Da ist die Katze, die auch noch den verwaisten Welpen säugt, oder der Hund, der die Entenküken behütet.« Haustiere schützen auch die beherzt die Menschen der Familie, in der sie leben: Da ist die Katze, die beherzt das Kleinkind vor dem Angriff eines Hundes beschützt. Oder das Pony, dass ein Mädchen vor dem Angriff eines wildgewordenen Hundes verteidigt. Da ist der Hund, der einen verirrten zweijährigen aus der Wildnis rettet.
In ihrem Buch nennt die Autorin auch Beispiele aus der Wildnis: Die kenianische Löwin Kamunyak adoptierte eine Reihe von Oryxantilopen-Kälbern Kälbern und versuchte sie vor anderen Löwen zu beschützen. Eine Delfinmutter zog neben dem eigenen Baby ein verirrtes Breitschnabeldelfinkalb mit auf. Immer wieder gibt es auch Berichte, dass erwachsene Tiere andere erwachsene Tiere, die nicht zu ihrer eigenen sozialen Gruppe oder nicht einmal zu ihrer eigenen Spezies gehören umsorgen. »Diese Fälle erstaunen uns wohl am meisten, obwohl wir dieses Verhalten von uns kennen und für „natürlich“ halten«, schriebt Marianne Taylor. »Wir fragen uns dann, welche evolutionäre Notwendigkeit diesem Verhalten wohl zugrunde liegt. Aber vielleicht sollten wir uns fragen, welches Gefühl das fürsorgliche Tier verspürt und ob wir dieses Gefühl nachempfinden können.«
Die Meeresbiologin Nan Hauser, die auf den Cookinseln im Südpazifik eine Walforschungs- und Schutzstation leitet und jahrzehntelang mit Walen getaucht ist, wurde bei einem Tauchgang von einem gefährlichen Hai bedroht. Ein Buckelwal ging dazwischen und vertrieb den Hai. »Wir wissen nicht, was Wale in solchen Situationen empfinden«, schreibt Marianne Taylor, »doch es wäre ausgesprochen überheblich, wenn wir annähmen, dass nur wir Menschen diesen brennenden (und hoch motivierenden) Schmerz der Empathie fühlen können, wenn wir ein anderes Lebewesen in Not sehen.«
Freundschaft über Artgrenzen hinweg
Wir Menschen sollten uns großes Gehirn einschalten und unser großes Ego zurückstellen
Immer neue Studien zeigen nicht nur, wie intelligent einige Tiere sind, sondern auch, dass ihr Verstand dem unseren in mancher Hinsicht weit überlegen ist. Darum sollten wir Menschen, wenn wir Intelligenz bei Tieren untersuchen wollten, »nun wirklich unser großes Gehirn einschalten und unser großes Ego zurückstellen« - und die Forschungsergebnisse einer kognitiven Analyse unterziehen, meint Marianne Taylor. »Unsere Planungs- und Problemlösungskompetenzen, gepaart mit unseren geschickten Händen, ermöglichen es uns, das Gefüge unserer Umwelt zu verändern und jedes erdenkliche Werkzeug zu bauen, um Ressourcen aus den unmöglichsten Orten zu gewinnen. Wir haben sogar die Weitsicht zu erkennen, dass unser biologisch determiniertes, rastloses Ressourcen-Sammeln vielleicht doch nicht die beste Strategie für das Überleben unserer Spezies und unseres Planeten ist. Es steht zu hoffen, dass wir in der Lage sind, diese Kompetenzen dazu einzusetzen, den von uns angerichteten Schaden auszugleichen und bessere Hüter der Erde zu werden.«