Ist Jagd ökologisch?
Ist Jagd ökologisch?
Von Natur aus haben zahlreiche Faktoren einen Einfluss auf die Fortpflanzung. Zu diesen Faktoren zählen zum Beispiel Nahrungsverfügbarkeit, Klima, feste Sozialstrukturen innerhalb der Familie (Rudel, Rotte), Pheromone (das sind Duftstoffe, die z.B. innerhalb einer Wildschweinrotte dafür sorgen, dass nur die Leitbache trächtig wird), ein eigenes Revier oder Übernahme eines elterlichen Territoriums, Regulierung durch Beutegreifer und Krankheiten. In unbejagten Gebieten sorgen diese Faktoren dafür, dass Wildtierbestände nicht überhand nehmen und sich immer wieder ein ökologisches Gleichgewicht einpendelt.
Intensive Bejagung beeinflusst nicht nur die Reproduktion von Wildtieren mit Arterhaltung und Geburtenausgleich, sondern auch andere Faktoren:
· Abwanderung von freilebenden Tieren wie Füchsen, Wildschweinen, Rehen und Vögeln in Stadtgebiete,
· Abwanderung von Rehen von ihrem natürlichen Lebensraum (Wiesen, Felder, Waldrand) in die Wälder (was in den Wäldern zu Verbissschäden führt),
· Änderung des Nahrungsverhaltens: statt auf Wiesen, Feldern und am Waldrand Gräser, Kräuter und Brombeerblätter zu äsen, ernähren sich Rehe im Schutz der Wälder von jungen Trieben der Bäume,
· unnatürliche Scheu und hohe Fluchtdistanzen, wodurch vor allem im Winter (zu) viel Energie verbraucht wird,
· unnatürliche Verhaltensweisen: von Natur aus tagaktive Tiere verlagern ihre Aktivität in den Schutz der Nacht,
· Störung des Sozialverhaltens, Störung des natürlichen Zusammenlebens: von Natur aus verspielte Tiere wie zum Beispiel Füchse zeigen kein Spielverhalten,
· Zerstörung von Familienstrukturen durch Tötung von Familienmitgliedern,
· Ausbreitung von Krankheiten, weil die Tiere vor Jägern in andere Gebiete flüchten und so einen größeren Aktionsradius haben.
Bei uns wird überall abseits geschlossener Ortschaften gejagt. Dies führt dazu, dass freilebende Tiere in große Städte abwandern, wo sie im Mosaik von Grünanlagen und Gärten einen Lebensraum finden - wie hier in Berlin.
In der »Hauptstadt der Wildschweine« haben sich die Tiere an die harmlosen Zweibeiner gewöhnt und spazieren seelenruhig mit Kind und Kegel durch Parks und Straßen an parkenden Autos vorbei. Zum Berliner Alltag gehören Wildtiere dazu - und sie werden als Mitbewohner toleriert. · Bild: Julian Hopff · Shutterstock.com
Wissenschaftliche Studien: Auswirkung der Jagd auf Wildtiere - Jagd stört das Ökosystem
Europa ist eine von Städten, Land- und Forstwirtschaft geprägte Kulturlandschaft, aber rund ein Drittel der Fläche ist bewaldet. Hier leben Tiere und Pflanzen in komplexen Ökosystemen. Seit Jahren untersuchen Forscher weltweit, wie sich Wildtiere unter Jagddruck verhalten. In Langzeitstudienbeobachten sie Populationen von Hirschen, Rehen, Füchsen, Wildschweinen und anderen Tieren über Jahrzehnte. Alle Studien zeigen: Im Vergleich zu jagdfreien Gegenden verändern sich Wildtierpopulationen durch die Jagd stark. |
Effekt 1: Tiere unter Dauerstress - Von Natur aus tagaktive Wildtiere verlagern Aktivitäten in die Nacht Eine große wissenschaftliche Metaanalyse mit dem Titel »Der Einfluss menschlicher Störungen auf die Nachtaktivität von Wildtieren« beweist, dass freilebende Tiere - vom Hirsch bis zum Kojoten und vom Tiger bis zum Wildschwein - immer nachtaktiver werden. Ein weiteres Ergebnis der Auswertung von 76 Studien mit 62 Tierarten auf sechs Kontinenten ist: In allen Lebensräumen zeigen freilebende Tiere deutliche Abweichungen von natürlichen Aktivitätsmustern. Dies hat negative Auswirkungen auf die Fitness und Gesundheit einer Population, ihr Sozialverhalten und die Evolution.(Kaitlyn M. Gaynor, Cheryl E. Hojnowski, Neil H. Carter, Justin S. Brashares: The influence of human disturbance on wildlife nocturnality. Science, Vol 360, Issue 6394) In der Wissenschaft spricht man davon, dass Wildtiere in einer »landscape of fear« - einer Landschaft der Angst - leben. »Menschen werden als Gefahr gesehen«, erklärt Prof. Ilse Storch, Leiterin des Lehrstuhls Wildtierökologie und Wildtiermanagement an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Durch die Jagd seien viele Wildtiere noch scheuer und ängstlicher geworden. In unbejagten Gebieten haben Wildtiere eine deutlich geringere Fluchtdistanz (»Nationalpark-Effekt«). |
Effekt 2: Abwanderung von offenen Flächen in Wälder: Viele Wildtiere auf kleiner Fläche Aus Angst vor Jägern haben viele Wildtiere ihren natürlichen Lebensraum dauerhaft verlassen. Dabei können sie einschätzen, wann es besonders gefährlich wird. Bei Rehen und Hirschen haben Forschende beispielsweise beobachtet, dass sich der Rückzug in den Wald während der Jagdsaison verstärkt. Jagd trägt also wesentlich dazu bei, dass Wildtiere in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihrem Lebensraum eingeschränkt werden. (Bonnot, N., Morellet, N., Verheyden, H. et al.: Habitat use under predation risk: hunting, roads and human dwellings influence the spatial behaviour of roe deer. Eur J Wildl Res 59, 185–193, 2013.) »Wildtiere entscheiden sich, eher zu hungern, als sich aktiv in eine Gefahr zu begeben«, erklärt Dr. Konstantin Börner, Biologe in der Abteilung Ökologische Dynamik am Leibniz- Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW). »Sie meiden freie Felder und leben verstärkt im Schutz des Waldes.« Dies führt zu einer extremen Begrenzung des Lebensraums, was Wissenschaftler für problematisch halten. »Ohne Bewegungsfreiheit und genetischen Austausch wird die Gesundheit der Tiere gefährdet«, so Dr. Konstantin Börner. |
Effekt 3: Gestörte Fortpflanzungsprozesse Der Hauptgrund für die Jagd ist die angebliche »Regulierung« der Tierpopulationen. Die Frage ist: Müssen wildlebende Tiere bejagt werden, damit keine »Überpopulation« entsteht? Und: Können Wildtierpopulationen durch die Jagd überhaupt »reguliert« werden? Die Jagd führt dazu, dass sich Wildtiere, deren Population Jäger eigentlich »regulieren« (dezimieren) wollen, schneller vermehren. Fakt ist: Trotz intensiver Bejagung nehmen die Bestände von Rehen und Wildschweinen seit Jahrzehnten immer weiter zu. Jagd scheint nicht geeignet zu sein, die Zahl der Rehe und Wildschweine zu dezimieren. Im Gegenteil: Studien zeigen eindeutig, dass Wildschweine, Rehe, Hirsche, Füchse und andere Wildtiere unter Jagddruck ihre Fortpflanzungsrate erhöhen, etwa indem sie sich schon in jüngerem Alter fortpflanzen. Je stärker sie gejagt werden, desto mehr Nachwuchs zeugen sie.* Fakt ist auch: Bei anderen Arten führt die Bejagung zum Rückgang der Populationen bis hin zur akuten Gefährdung: So stehen Feldhasen, Wildkaninchen, Rebhühner, Birkhühner, Auerhühner, Königsfasane, Brandgänse, Knäkenten, Krickenten auf der Roten Liste gefährdeter Arten oder sind sogar vom Aussterben bedroht. Der renommierte Zoologe Prof. Dr. Josef H. Reichholf sagt unmissverständlich: »Jagd reguliert nicht. Sie schafft überhöhte und unterdrückte Bestände.« (Prof. Dr. Reichholf, Vortrag 15.10.2013 Universität Basel · www.jagdreguliertnicht.ch) *Studien Rehe: · Bonnot, N., Morellet, N., Verheyden, H. et al.: Habitat use under predation risk: hunting, roads and human dwellings influence the spatial behaviour of roe deer. Eur J Wildl Res 59, 185–193 (2013). https://doi.org/10.1007/s10344-012-0665-8 Füchse · Kistler C et al.: Das Management des Fuchses sollte auf wissenschaftlichen Grundlagen anstatt auf Annahmen basieren. In: Voigt, C.C.: Evidenzbasiertes Wildtiermanagement. Springer Spektrum 2023. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-65745-4_102 Wildschweine · Servanty S. et al.: Factors affecting wild boar reproduction under hunting pressure. Journal of Animal Ecology, 2009 |