Je mehr Wildschweine geschossen werden, umso mehr vermehren sie sich
Jagd reguliert nicht: Je mehr Wildschweine geschossen werden, umso mehr vermehren sie sich
Seit Jahren ist in allen Zeitungen von einer »Wildschweinschwemme«, gar von einer »Wildschwein-Plage« zu lesen. Doch obwohl in Deutschland so viele Wildschweine geschossen werden, wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, steigt die Anzahl der Wildschweine weiter und weiter. Ist die Lösung des »Wildschweinproblems«, noch mehr Tiere zu schießen? Oder ist gerade die intensive Jagd auf Wildschweine das Problem?
Dass Jagd die Zahl der Wildschweine nicht nachhaltig regulieren kann, gab Deutschlands größte Jagdzeitschrift schon vor über zehn Jahren offen zu: »Sind die Jäger überhaupt in der Lage, die Schwarzkittel dauerhaft zu regulieren?«, fragt WILD UND HUND und gibt auch gleich die Antwort: »Insgesamt haben jedoch alle Bemühungen der vergangenen Jahre keinen Erfolg gebracht. Die Sauen vermehren sich unaufhaltsam weiter.« (WILD UND HUND, 9/2014)
Bis Ende der 1980er-Jahre betrug die gesamteuropäische (!) Schwarzwildstrecke 550.000 Stück. Im Jagdjahr 2014/15 wurden alleine in Deutschland 520.623 Wildschweine erschossen, im Jagdjahr 2019/20 sogar 882.231, 2021/22 waren es 711.407. »Angesichts dieser Zahlen wird klar, dass wir die Sauen mit jagdlichen Mitteln offenbar nicht mehr nachhaltig regulieren können«, heißt es in WILD UND HUND. Deutlicher könnte das Eingeständnis der Jäger nicht sein: Jagd kann Wildschweine nicht regulieren.
2022/23 sank die »Strecke« erstmals: 462.220 Wildschweine wurden erschossen. Der Rückgang liegt aber nicht an jagdlicher Regulierung: Grund sei die hohe Mortalität bei den Frischlingen im Jahr 2022, so das Jägermagazin PIRSCH. »Durch das teilweise nasse Frühjahr und den sehr heißen und trockenen Sommer haben viele Frischlinge nicht bis in den Herbst überlebt.« (Schwarzwild-Strecke deutschlandweit um 35% eingebrochen. PIRSCH.de, 20.1.2023.)
Studie: Jagd führt zur unkontrollierten Vermehrung von Wildschweinen
So paradox es klingen mag: Je mehr Jagd auf Wildschweine gemacht wird, umso stärker vermehren sie sich. Auf diesen Zusammenhang weisen immer mehr Wissenschaftler hin.
Eine französische Langzeitstudie kommt zu dem Ergebnis: Starke Bejagung führt zu einer deutlich höheren Fortpflanzung und stimuliert die Fruchtbarkeit bei Wildschweinen. Die Wissenschaftler um Sabrina Servanty verglichen in einem Zeitraum von 22 Jahren die Vermehrung von Wildschweinen in einem Waldgebiet im Departement Haute Marne, in dem sehr intensiv gejagt wird, mit einem wenig bejagten Gebiet in den Pyrenäen. Das Ergebnis wurde im renommierten Journal of Animal Ecology veröffentlicht: Wenn hoher Jagddruck herrscht, ist die Fruchtbarkeit bei Wildschweinen wesentlich höher als in Gebieten, in denen kaum gejagt wird.
Weiterhin tritt bei intensiver Bejagung die Geschlechtsreife deutlich früher - vor Ende des ersten Lebensjahres - ein, so dass bereits Frischlingsbachen trächtig werden. Auch das Durchschnittsgewicht der erstmalig fruchtbaren Wildschweine ist bei hohem Jagddruck geringer. In Gebieten, in denen wenig gejagt wird, ist die Vermehrung der Wildschweine deutlich geringer, die Geschlechtsreife bei den Bachen tritt später und erst bei einem höheren Durchschnittsgewicht ein. (Servanty et alii, Journal of Animal Ecology, 2009)
Die Natur hatte eigentlich alles hervorragend geregelt: Erfahrene weibliche Wildschweine - die Leitbachen - sorgen für die Ordnung in der Rotte und für Geburtenkontrolle. Die Hormone der Leitbachen bestimmen die Empfängnisbereitschaft aller weiblichen Tiere der Gruppe und verhindern, dass zu junge Bachen befruchtet werden. Fehlen die Leitbachen, weil sie bei der Jagd getötet wurden, löst sich die Ordnung auf. Die Sozialstruktur ist zerstört, die Tiere vermehren sich unkontrolliert.
Wildschweinschwemme "hausgemacht"
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass der verstärkte Energie-Maisanbau zur Vermehrung der Wildschweine beiträgt. Gerade Mais fördert mit seinem besonders hohen Anteil an Stärke die Fruchtbarkeit von Wildschweinen.
Wurde in Deutschland 1960 auf 56.000 Hektar Mais angebaut, waren es im Jahr 2023 ganze 2.462.000 Hektar. Davon sind etwa zwei Drittel Futtermittel für die Massentierhaltung und etwa ein Drittel für die Biogasproduktion. Die großflächigen Mais-Monokulturen haben gravierende Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Doch sind sie auch der ausschlaggebende Grund für die Vermehrung der Wildschweine?

Mais im März.
Kirrung mit etwa 15 Litern Körnermais. Untersuchungen zufolge bringen Jäger pro erschossenem Wildschwein über 100 Kilo Mais als Anlockfütterung aus. Mais fördert mit seinem besonders hohen Anteil an Stärke in der Fortpflanzungszeit von Oktober bis März die Fruchtbarkeit. Und so werden es immer mehr Wildschweine. · Bild: Pelli
Kirrung produziert Wildschweine
Während der Mais auf den Feldern nur wenige Monate im Jahr zur Verfügung steht, karren Jäger ganzjährig große Mengen Mais als »Kirrungen« (Anlockfütterungen) in den Wald. Der Kirrmais steht besonders auch in der Zeit der Fortpflanzung im Winter zur Verfügung. Untersuchungen der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft Rheinland-Pfalz weisen darauf hin, dass die zusätzliche Fütterung gerade bei Frischlingsbachen die Geschlechtsreife von 30 auf 70 Prozent erhöhe, was wegen ihres hohen Anteils in der Population den Gesamtzuwachs der Population entscheidend beeinflusse. (Schwarzwild: Kirrmais versus Feldmais. Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft, Rheinland-Pfalz. 2.3.2010)
Der NABU-Jagdexperte Michael Hug kritisierte schon vor rund 25 Jahren, dass Wildschweine »gemästet werden wie ein Hausschwein«. (Reform der Jagd, NABU 2002) Damals hatte die Wildforschungsstelle Aulendorf ermittelt, dass für ein erlegtes Wildschwein im Schnitt 136 Kilo (!) Mais ausgebracht werden. (Ergebnisse einer landesweiten Befragung zur Schwarzwildbewirtschaftung. Wildforschungsstelle Aulendorf, 4/2001)
Daran hat sich nichts geändert: In Bayern beispielsweise wurden laut einer Kirranlayse pro erlegtem Wildschwein 100 Kilo Mais investiert. In Rheinland-Pfalz wurde in einem Hegering an 22 Kirrungen gar 780 Kilo Mais pro geschossenem Wildschwein ausgebracht. (Brennpunkt Schwarzwild. Abschlussbericht im Auftrag der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft, 2014 · Kirrung - ein Beitrag zur Wildschadenproblematik? wildoekologie-heute.de, 2012)