Schützen Jäger den Wald vor Rehen und Hirschen?
Wenn Jäger ihr blutiges Hobby in der Öffentlichkeit rechtfertigen, malen sie Schreckensszenarien von Waldschäden durch »Verbiss«. Ohne Jagd würden Rehe und Hirsche überhand nehmen - dies würde den Aufbau stabiler strukturreicher Waldbestände und die Verjüngung des Waldes gefährden. Doch Rehe und Hirsche tauchen in der Waldzustandserhebung der Bundesregierung überhaupt nicht auf! Als Ursache für Waldschäden werden statt dessen Luftverschmutzung, Versauerung (saure Böden) und Eutrophierung (Überdüngung) durch Stickstoff und hohe Nitratwerte - vor allem durch die industrielle Massentierhaltung mit Güllefluten - sowie die Folgen des Klimawandels (Trockenstress, steigende Temperaturen) genannt. (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Ergebnisse der Waldzustandserhebung 2022)
Stimmt es also, dass Jäger den Wald vor Verbiss durch Rehe und Hirsche schützen müssen?
Rehe sind von ihrer Natur her Bewohner von Wiesen
und dem Waldrand. Erst die Jagd treibt die Tiere in den Wald hinein, wo sie dann keine - für sie lebenswichtigen - Gräser und Kräuter finden und ihnen nichts anderes bleibt, als an Knospen zu knabbern. Durch die Jagd werden die Tiere unnötig aufgescheucht, was ihren Nahrungsbedarf und damit die Fraßschäden oft weiter erhöht. · Bild: Archiv
Jagd provoziert Wildschäden
Die Wahrheit ist: Statt Wildschäden zu verhindern, provoziert Jagd ganz im Gegenteil Wildschäden. Rehe sind von ihrer Natur her Bewohner von Wiesen und Waldrand. Erst die Jagd treibt die Tiere in den Wald hinein, wo sie dann keine - für sie lebenswichtige - Gräser und Kräuter finden und ihnen nichts anderes bleibt, als an Knospen zu knabbern. Durch die Jagd werden die Tiere dann auch noch unnötig aufgescheucht, was ihren Nahrungsbedarf und damit die Fraßschäden oft weiter erhöht.
Der Zoologe Prof. Dr. Josef H. Reichholf stellt in aller Deutlichkeit fest, dass Jagd in der Kulturlandschaft aus ökologischen Gründen nicht sein muss. Wildschäden in der Land- und Forstwirtschaft würden weniger groß ausfallen, »wenn das Wild nicht so scheu wäre und wenn mehr Raubtiere als natürliche Feinde des Schalenwildes in Wald und Flur zugelassen würden.« Zum »Schalenwild« werden Paarhufer wie Rehe, Hirsche, Gämsen und Wildschweine gezählt. (Josef H. Reichholf: Warum Jagd? Folgen des Jagens für Menschen, Tiere, Pflanzen und Landschaften. TIERethik 2/2013)
Prof. Dr. Reichholf weist darauf hin, dass der hohe Jagddruck Flexibilität, Mobilität und Scheuheit der Rehe erhöht: »Ein anhaltend hoher Jagddruck von rund einer Million abgeschossener Rehe pro Jahr hat den Bestand nicht auf gewünschte Höhe reguliert, sondern auf hohem Niveau hoch produktiv gehalten.« Das heißt: Je mehr Rehe geschossen werden, umso stärker vermehren sie sich. (Rabenschwarze Intelligenz - Was wir von Krähen lernen können, 2009)
Jäger halten Rehbestand auf hohem Niveau
Dass die Jäger in Wirklichkeit den Rehbestand hoch halten wollen, um genug zum Schießen zu haben, beweist auch folgende Tatsache: Sobald sich in einem Revier Luchse oder Wölfe angesiedelt haben, lanciert die Jagdlobby Schlagzeilen wie »Fressen die Luchse den Harz leer?« (topargar, 20.2.2015). In der Lausitz jammern Jäger: »Das Reh- und das Schwarzwild sind stark zurückgegangen, Rotwild gibt es so gut wie keins mehr.« (Der Wolf – von Scheu keine Spur. Lausitzer Rundschau, 24.2.2017)
In Brandenburg ist seit der Rückkehr der Wölfe die Zahl der Rehe stark zurückgegangen. Dies wäre doch eigentlich gut für den Wald - das vorgebliche Ziel der Jäger, Bäume vor Verbiss zu schützen, wäre erreicht.
Doch die Jäger klagen: Der Wolf sei der größte Konkurrent für Jäger in Brandenburg. Wurden 2012/2013 73.900 Rehe erlegt - im Jagdjahr 2022/2023 belief sich die Zahl der Abschüsse auf 48.800. (Umweltministerium sieht Wolf als Grund für weniger Wild. rbb, 21.12.2023) Ein Brandenburger Jäger würde Wölfe am liebsten rigoros bejagen: »Der Wolf schnappt mir die Rehe vor der Flinte weg.« (Lausitzer Rundschau, 6.9.2021)
Das Argument, Rehe und Hirsche würden erhebliche Schäden verursachen, dient also nur als Vorwand der Jäger, längere Jagdzeiten oder höhere Abschussquoten durchzusetzen.
Aufschlussreiche Studien: Waldverjüngung durch Hirsche
Rehe und Hirsche tragen zur Verjüngung des Waldes und zur Artenvielfalt bei. Auf Wildwechseln wachsen nämlich dreißigmal mehr Baumkeimlinge. Dies ist das Ergebnis zweier Studien der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, Birmensdorf hin, die beide im Nationalpark Schweiz durchgeführt wurden. Im Nationalpark Schweiz wird seit 1914 nicht mehr gejagt.
Studie 1: Artenvielfalt nimmt zu
Die erste Studie »Huftiere und Vegetation im Schweizerischen Nationalpark von 1917 bis 1997 bzw. Einfluss des Wildes auf die botanische Vielfalt der subalpinen Weiden« kommt zu folgendem Ergebnis: Obwohl seit Anfang des 20. Jahrhunderts durch das Jagdverbot im Nationalpark eine starke Zunahme der Hirschpopulation festzustellen ist, würde heute die Futtermenge im Nationalpark theoretisch sogar für das Fünf- bis Zehnfache des heutigen Wildbestands ausreichen. Auf Dauerkurzweiden, die durch Hirsche intensiv genutzt werden, haben die Pflanzenarten in den beobachteten 50 bis 80 Jahren stark zugenommen. Dagegen hat auf Weiden, die extensiv beäst wurden, die Artenvielfalt abgenommen. Trotz steigender Rothirschdichte durch das Jagdverbot wuchs eine frühere Schadensfläche zwischen 1955 und 1975 wieder vollständig zu.
Studie 2: Dreißigmal mehr Baumkeimlinge auf Wildwechseln
Die zweite Studie über die »Bedeutung von Huftieren für den Lebensraum des Nationalparks bzw. zum Nahrungsangebot und zur Waldverjüngung« zeigt, dass trotz gestiegener Hirschpopulation die Anzahl der Bäume pro 100 Quadratmeter und der dem Verbiss entwachsenen über 150 cm hohen Bäume stark zugenommen hat. Auf den aktuell benutzten Wildwechseln wurden pro Quadratmeter im Schnitt achtmal mehr Keimlinge gefunden als auf verlassenen Wechseln und rund dreißigmal mehr als außerhalb von Wildwechseln.
Die Verjüngung und die Ausbreitung des Waldes scheinen also durch die heutige Hirschdichte im Nationalpark eher gefördert als behindert zu werden. Dies bestätigen auch Vergleiche mit alten Luftbildern und Langzeituntersuchungen auf Dauerbeobachtungsflächen. Diese zeigen, dass der Wald trotz der relativ hohen Hirschdichte während der letzten Jahrzehnte an verschiedenen Stellen sogar erfolgreich auf die ehemaligen Weiden hinaus vorgedrungen ist. (Dr. Hans Hertel, Über Sinn und Unsinn des Jagens. The Journal of Natural Science 5/2000)
Hirsche pflanzen Bäume:
Auf Wildwechseln wachsen dreißigmal mehr Baumkeimlinge. Außerdem nimmt auf subalpinen Wiesen, die regelmäßig von Hirschen beweidet werden, die Artenvielfalt stark zu. · Bild Hirsche: wojciech nowak · Shutterstock.com
Immer wieder flammt die Debatte über den Umbau des Waldes und die Forderung nach einer noch stärkeren Bejagung von Rehen auf. Doch ist es die Lösung, noch mehr Rehe zu schießen? Der renommierte Zoologe und Ökologe Prof. Josef H. Reichholf sagt nein: So werden sich weder der Wald noch das Klima retten lassen.
Von Josef H. Reichholf
Der Waldumbau ist notwendig. Weil die Wälder klimastabil werden müssen. Doch Rehe verbeißen die jungen Bäume. Sie verhindern die Waldwende. Also müssen noch mehr geschossen werden als bisher. Bis neue Wälder von selbst aufwachsen. Der Bund Naturschutz in Bayern, der Ökologische Jagdverband und Waldbesitzer forderten dies unlängst in einer Pressemitteilung.
Das Ansinnen klingt nachvollziehbar. Bei genauerer Betrachtung ist es dies aber nicht. Denn der Rehbestand wird schon seit Jahrzehnten sehr intensiv bejagt. Tendenz steigend, den Jagdstrecken zufolge. Der Naturverjüngung in den Wäldern half dies anscheinend nicht. Warum? Ein kurzer Blick auf das Reh selbst und seine Lebensweise hilft weiter.
Das Reh ist seiner Natur nach kein Waldtier. Die Kitze setzt es bekanntlich nicht im schützenden Waldesdickicht, sondern draußen auf den Fluren, am liebsten in Wiesen. Leider, denn dort werden sie allzu leicht von Mähmaschinen verstümmelt. Davor, im Frühjahr, sehen wir Rehe auf den Feldern. Ganz offen. Wenn sie nicht oder wenig bejagt werden, würden sie sich auch die übrige Zeit des Jahres frei auf den Fluren aufhalten. Ab Herbst in Gruppen, die von den Jägern »Sprünge« genannt werden.
Doch abgesehen vom Frühjahr machen sich die Rehe nahezu unsichtbar. Sie warten bis in die Nacht hinein, bis sie sich hinauswagen auf die Fluren. Denn die starke Bejagung hat das Rehwild scheu gemacht, sehr scheu. Nur die vorsichtigsten Rehe überleben. An ihrem Verhalten orientieren sich die Jungrehe. Ergebnis: Die Rehe wurden geradezu hineingedrängt in die Wälder. Einen großen Teil ihrer täglichen Nahrung müssen sie darin aufnehmen. Dabei verbeißen sie auch die Knospen junger Bäume. Bevorzugt sogar, denn diese enthalten die vom Reh benötigten Nährstoffe in günstiger Konzentration. Rehe sind wählerisch. Sie müssen dies sein bei ihrem schlanken Körperbau und kleinem Magen.
Fressen sie junge, eiweißreiche Triebe von Gräsern draußen auf der Flur, verursacht dies keinen Schaden. Denn Gräser wachsen »von unten«, nicht von oben, von den Spitzen, wie die Bäume. Deren Wachstum geht von den Knospen aus. Die Landwirte kennen dies. Sie praktizieren es seit jeher: Gras lässt sich mähen, häufig sogar. Jungwuchs von Bäumen nicht.
Rehe sind von ihrer Natur her Bewohner von Wiesen und dem Waldrand.
Die Jagd treibt die Tiere in den Wald hinein, wo sie dann keine - für sie lebenswichtigen - Gräser und Kräuter finden und ihnen nichts anderes bleibt, als an Knospen zu knabbern. Durch die Jagd werden die Tiere unnötig aufgescheucht, was ihren Nahrungsbedarf und damit die Fraßschäden weiter erhöht. · Bild: WildMedia · Shutterstock.com
Daher ist die Flur der weitaus geeignetere Lebensraum für Rehe als der Wald. Mehr Bejagung zwingt sie aber noch mehr in den Wald - und vergrößert damit die Verbissschäden. Der Rehbestand in Deutschland ist sehr groß und produktiv. Der Abschuss schöpft kaum den jährlichen Zuwachs ab, trotz größter Bemühungen. Weil die Scheu die Rehe immer schwerer bejagbar macht.
Den Rehen geht es nämlich an sich gut in der Kulturlandschaft. Die allgemein starke Düngung hat die Pflanzen, von denen sie leben, nahrhafter gemacht. Das äußert sich in der Häufigkeit von Zwillingsgeburten. Die starke Bejagung hält den Rehbestand auf hohem Niveau. Sie führte in eine Sackgasse, aus der man nicht herauskommt, wenn noch tiefer hinein gefahren wird.
Im Gegenteil. Der Verbiss steigt weiter, bis die Rehe fast ausgerottet sind. Weil die ihnen aufgezwungene Scheu verhindert, dass sie ihrer Natur gemäß weitgehend im Freien leben. Dürften sie dies, käme das nicht nur der Naturverjüngung im Wald ganz von selbst zugute, sondern die Häufigkeit der Wildunfälle würde abnehmen. Rehe, die nicht bei Nacht und Nebel über Straßen müssen, geraten auch nicht unter die Räder. Sie können lernen, sich auf den Straßenverkehr einzustellen. Was ja wohl nicht verkehrt wäre. Denn die für die allermeisten Rehe tödlichen, an den Autos aber »nur Blechschäden« verursachenden Kollisionen sind mit sehr hohen Kosten verbunden. Ohne Personenschäden an den Autos jeweils mehrere tausend Euro. Und dies bei rund 200.000 Rehunfällen pro Jahr. Also alljährlich Schäden im mehrstelligen Millionenbereich.
Ein weiterer Vorteil käme hinzu: Die Rehe würden wieder sichtbar. Wären sie nicht so scheu, ließe sich viel leichter feststellen, wie groß die Bestände tatsächlich sind. Und wie verteilt. Der Verbiss ist dafür kein guter Weiser. Er ist rein auf den Waldbau bezogen. Manche Baumarten würden in den betreffenden Wäldern nicht aufkommen, weil sie von Natur aus gar nicht vorkämen. Wie Douglasien, die im Staatsforst gepflanzt werden, oder Fichten im Auwald an der Alz, im Naturschutzgebiet mit mehr oder weniger regelmäßigen Überschwemmungen.
Anzumerken ist auch, dass die seit Jahren so intensive Bewirtschaftung des Staatsforstes die Massenausbreitung der Drüsigen Springkräuter fördert, die ein Aufwachsen von Naturverjüngung der gewünschten Waldbäume verhindern. Die Rehe sind daran gewiss nicht schuld. Und auch nicht, dass früher Fichten großflächig gepflanzt worden waren, wo von Natur aus Buchen vorkommen würden oder Laubmischwald.
Die Fehler der Forstwirtschaft sind den Rehen nicht anzulasten. Auch nicht der Gesellschaft, die dafür wieder einmal zahlen soll. Die Menschen, viele Menschen, würden bei uns gern auch mal Rehe erleben, die nicht in wilder Panik davon stürmen oder nachts eine gefährliche Vollbremsung auslösen. Mit weiter verstärktem Rehabschuss werden sich weder der Wald noch das Klima retten lassen.
Dieser Artikel ist als Gastbeitrag von Josef H. Reichholf am 3.9.2020 in der Passauer Neuen Presse erschienen.