Wissenschaftler: Ohne Jagd finden Natur und Tiere ins Gleichgewicht
Wissenschaftler: Ohne Jagd finden Natur und Tiere ins Gleichgewicht
Immer mehr Biologen, Zoologen und Ökologen gelangen zu der wissenschaftlich untermauerten Ansicht, dass Jagd Wildtierbestände nicht regulieren kann. Wildtiere verfügen von Natur aus über verschiedene Mechanismen zur Regulierung des Populationswachstums, welche über die Sozialstrukturen, Hormone und Pheromone sowie das Futterangebot gesteuert werden: Droht Überbevölkerung, wird die Geburtenrate gesenkt.
Ständige Bejagung dagegen führt dazu, dass sich bestimmte Tierarten wie Wildschweine, Rehe, Hirsche und Füchse viel stärker vermehren, um Verluste auszugleichen. Hinzu kommt, dass die Vermehrung von Jägern durch Fütterung besonders gefördert wird. Dagegen werden andere Arten wie Feldhasen und Rebhühner durch Bejagung immer seltener.
Jagdfreie Gebiete beweisen: Tierbestände nehmen nicht überhand
Der Schweizerische Nationalpark ist seit 1914 vollständig jagdfrei und wird von Anfang an intensiv mit wissenschaftlicher Forschung begleitet. Im dichtbesiedelten Schweizer Kanton Genf wurde die Jagd seit 1974 per Volksentscheid verboten. Die Forschungen in beiden Gebieten beweisen, dass weder in von Menschen nicht bewirtschafteten Naturparks noch in der dichtbesiedelten Kulturlandschaft eine Kontrolle der Bestände durch die Jagd notwendig ist - auch ohne große Raubtiere.
Dass eine Natur ohne Jagd möglich ist, zeigen ebenso die ausgedehnten Nationalparks in Italien, die alle seit Jahrzehnten jagdfrei sind, beispielsweise der »Gran Paradiso« (seit 1922 jagdfrei) oder der Nationalpark Belluno in den Dolomiten (seit 1990 jagdfrei). Auch im Nationalpark Pyrenäen, der im Jahr 1967 an der französisch-spanischen Grenze gegründet wurde, ist auf der gesamten Fläche von 45.700 Hektar die Jagd untersagt, alle Tiere sind streng geschützt. Ebenso ist beispielsweise auf der griechischen Insel Tilos die Jagd seit 1993 verboten. Überall zeigen die Erfahrungen, dass die Tierbestände natürlichen Schwankungen unterliegen und nie überhand nehmen.
»Nationalpark-Effekt«: Ohne Jagd wären frei lebende Tiere für Menschen erlebbar
Und noch etwas ist in unbejagten Gebieten zu beobachten: Die Tiere zeigen keinerlei Scheu vor Menschen und lassen sich am hellichten Tag aus wenig Entfernung beobachten.
In Deutschland nimmt hingegen jeder Hase, jedes Reh, jedes Wildschwein panisch Reißaus, wenn es einen Menschen in einer Entfernung von Hunderten Metern sieht oder wittert. Die Tiere wissen: Mensch gleich Jäger gleich Feind.
»Jagd reguliert nicht«
Der renommierte Zoologe und Ökologe Prof. Dr. Josef H. Reichholf, der an beiden Münchner Universitäten lehrte und Leiter der Abteilung Wirbeltiere der Zoologischen Staatssammlung München war, stellt fest: »Jagd reguliert nicht. Sie schafft überhöhte und unterdrückte Bestände.« (Vortrag Prof. Dr. Reichholf am 15.10.2013 an der Uni Basel www.jagdreguliertnicht.ch)
Jagd bringt freilebende Tiere nicht in ein »Gleichgewicht«. Durch die Jagd werden nur die Bestände von Tierarten wie Feldhasen und Rebhühnern reduziert, die gefährdet oder stark gefährdet sind. Obwohl Jäger intensiv Jagd auf Füchse machen, um angeblich »Artenschutz« zu betreiben und Feldhasen und Wiesenbrüter zu schützen, werden die Bestände von Feldhasen und Rebhühnern durch die Jagd nicht einmal stabilisiert: Die von Jägern »gehegten« Arten wie Rebhuhn oder Feldhase nehmen seit Jahrzehnten kontinuierlich im Bestand ab.
Andere Wildtierarten wie Rehe, Hirsche, Füchse, Wildschweine und Waschbären gleichen Verluste durch die Jagd durch hohe Geburtenraten aus. So werden im fuchsjagdfreien Nationalpark Bayerischer Wald pro Füchsin nur etwa ein Drittel so viele Welpen geboren wie in intensiv bejagten Gebieten. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass durch die Jagd letztlich nur das Durchschnittsalter der jeweiligen Population gesenkt wird. (Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald, 2009: Rotfuchs und Dachs - Raumnutzungsverhalten und Habitatwahl)
Durch die Jagd gibt es also mehr Jungtiere, die auf der Suche nach Revieren weitere Strecken zurücklegen. Zusätzlich werden Leittiere erschossen, wodurch sich natürliche Sozialstrukturen auflösen und es ständig zu Wechseln in den Revieren kommt. So trägt die Jagd dazu bei, dass sich Krankheiten wie Räude oder Staupe oder der Befall mit dem Fuchsbandwurm sogar stärker ausbreiten. Und selbst bei der Afrikanischen Schweinepest ist die intensive Jagd laut Friedrich-Loeffler-Institut teilweise Mitverursacher des hohen Infektionsgeschehens. (Friedrich-Loeffler-Institut, RadarBulletin 12/2020 oder 07/2021)
In unbejagten Gebieten wird die Zahl der Tiere durch die gewachsenen Sozialstrukturen (nur Leittiere bzw. Tiere mit eigenem Revier pflanzen sich fort) sowie natürliche Faktoren wie Nahrungsangebot und Wetterereignisse reguliert - auch ohne große Beutegreifer wie Wölfe, Bären oder Luchse.
So zeigte die Zahl von Rehen, Hirschen und Wildschweinen in den Wolfsgebieten der sächsischen Lausitz fast die gleichen Schwankungen und Trends wie diejenige in Regionen Sachsens ohne Wölfe. Schwankungen kamen stattdessen vor allem durch harte oder milde Winter zustande. (Forschungsprojekt der TU Dresden: Schalenwildforschung im Wolfsgebiet der Oberlausitz. / Freistaat Sachsen: Streckenentwicklung www.wolf.sachsen.de/streckenentwicklung-4457.html)
Ein französische Langzeitstudie zeigt: Wenn hoher Jagddruck herrscht, ist die Fruchtbarkeit bei Wildschweinen wesentlich höher als in Gebieten, in denen kaum gejagt wird.
Weiterhin tritt bei intensiver Bejagung die Geschlechtsreife deutlich früher vor Ende des ersten Lebensjahres ein, so dass bereits Frischlingsbachen trächtig werden. In Gebieten, in denen wenig Jäger unterwegs sind, ist die Vermehrung der Wildschweine deutlich geringer, die Geschlechtsreife bei den Bachen tritt später und erst bei einem höheren Durchschnittsgewicht ein. (Servanty et alii: Pulsed resources and climate-induced variation in the reproductive traits of wild boar under high hunting pressure. Journal of Animal Ecology, 2009) · Bild: Martina Berg - Shutterstock.com
Ohne Jagd könnten sich bedrohte Arten wieder erholen
Seltenere Arten wie Feldhasen und Rebhühner würden ohne Jagd wieder zunehmen. Der jagdfreie Kanton Genf hat heute die größte Populationsdichte von Feldhasen und die letzte Rebhuhn-Population in der Schweiz. Und: Durch die Abschaffung der Jagd bekam das Gebiet des Genfer Sees und des Flusses Rhône einer Studie von SVS-BirdLife zufolge internationale Bedeutung für den Vogelschutz als wichtiges Brut- und Überwinterungsgebiet. (Gottlieb Dandliker, Faunainspektor Kanton Genf: »Jagdverbot: wissenschaftlich möglich und praktisch bewiesen«, Vortrag 15.10.2013 an der Uni Basel / Important Bird Areas factsheet: River Rhone: Geneva to Verbois reservoir. BirdLife International, 2012)
Der italienische Zoologe Prof. Carlo Consiglio hatte bereits im Jahr 2001 in seiner viel beachteten Publikation »Vom Widersinn der Jagd« auf 300 Seiten mit vielen Tabellen, Schaubildern und Studienergebnissen nachgewiesen, dass es nicht die geringste wissenschaftliche Rechtfertigung für die Jagd gibt. (Carlo Consiglio: Vom Widersinn der Jagd. Zweitausendundeins, 2001)
»Die Jagd ist überflüssig. Wenn man sie einstellt, regulieren sich die Bestände von allein«
Ragnar Kinzelbach, Professor emeritus für Biologie und Ökologie an der Universität Rostock und bis 2011 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie ist überzeugt: »Die Jagd ist überflüssig. Wenn man sie einstellt, regulieren sich die Bestände von allein.« Rehe, früher tagaktive Tiere, seien nur durch die Jagd zu scheuen, nachtaktiven Waldbewohnern geworden. »Wenn man die Rehe nicht jagen würde, würden sie sich auch nicht so sehr im Wald aufhalten und dort alles anknabbern«, so der Biologe. Außerdem sei die massive Fütterung durch Jäger ein Problem: »Die Jäger mästen in unseren Wäldern gigantische Rot- und Rehwildbestände heran, nur um sie anschließend abschießen zu können«, so Kinzelbach. Und er kommt zu dem Schluss: »Letztlich dient die Jagd nur dem Spaß und der Befriedigung der Mordlust der Jäger«. (Streit um die Jagd -»Befriedigung der Mordlust«. Süddeutsche Zeitung, 17.5.2010)
»Die Jagd ist überflüssig. Wenn man sie einstellt,
regulieren sich die Bestände von allein.«, ist der Zoologe Ragnar Kinzelbach von der Universität Rostock überzeugt. Rehe, früher tagaktive Tiere, seien nur durch die Jagd zu scheuen, nachtaktiven Waldbewohnern geworden. »Wenn man die Rehe nicht jagen würde, würden sie sich auch nicht so sehr im Wald aufhalten und dort alles anknabbern.« · Bild: johan10 - Shutterstock.com
Immer wieder flammt die Debatte über den Umbau des Waldes und die Forderung nach einer noch stärkeren Bejagung von Rehen auf. Doch ist es die Lösung, noch mehr Rehe zu schießen? Der renommierte Zoologe und Ökologe Prof. Josef H. Reichholf sagt nein: So werden sich weder der Wald noch das Klima retten lassen.
Von Josef H. Reichholf
Der Waldumbau ist notwendig. Weil die Wälder klimastabil werden müssen. Doch Rehe verbeißen die jungen Bäume. Sie verhindern die Waldwende. Also müssen noch mehr geschossen werden als bisher. Bis neue Wälder von selbst aufwachsen. Der Bund Naturschutz in Bayern, der Ökologische Jagdverband und Waldbesitzer forderten dies unlängst in einer Pressemitteilung.
Das Ansinnen klingt nachvollziehbar. Bei genauerer Betrachtung ist es dies aber nicht. Denn der Rehbestand wird schon seit Jahrzehnten sehr intensiv bejagt. Tendenz steigend, den Jagdstrecken zufolge. Der Naturverjüngung in den Wäldern half dies anscheinend nicht. Warum? Ein kurzer Blick auf das Reh selbst und seine Lebensweise hilft weiter.
Das Reh ist seiner Natur nach kein Waldtier. Die Kitze setzt es bekanntlich nicht im schützenden Waldesdickicht, sondern draußen auf den Fluren, am liebsten in Wiesen. Leider, denn dort werden sie allzu leicht von Mähmaschinen verstümmelt. Davor, im Frühjahr, sehen wir Rehe auf den Feldern. Ganz offen. Wenn sie nicht oder wenig bejagt werden, würden sie sich auch die übrige Zeit des Jahres frei auf den Fluren aufhalten. Ab Herbst in Gruppen, die von den Jägern »Sprünge« genannt werden.
Doch abgesehen vom Frühjahr machen sich die Rehe nahezu unsichtbar. Sie warten bis in die Nacht hinein, bis sie sich hinauswagen auf die Fluren. Denn die starke Bejagung hat das Rehwild scheu gemacht, sehr scheu. Nur die vorsichtigsten Rehe überleben. An ihrem Verhalten orientieren sich die Jungrehe. Ergebnis: Die Rehe wurden geradezu hineingedrängt in die Wälder. Einen großen Teil ihrer täglichen Nahrung müssen sie darin aufnehmen. Dabei verbeißen sie auch die Knospen junger Bäume. Bevorzugt sogar, denn diese enthalten die vom Reh benötigten Nährstoffe in günstiger Konzentration. Rehe sind wählerisch. Sie müssen dies sein bei ihrem schlanken Körperbau und kleinem Magen.
Fressen sie junge, eiweißreiche Triebe von Gräsern draußen auf der Flur, verursacht dies keinen Schaden. Denn Gräser wachsen »von unten«, nicht von oben, von den Spitzen, wie die Bäume. Deren Wachstum geht von den Knospen aus. Die Landwirte kennen dies. Sie praktizieren es seit jeher: Gras lässt sich mähen, häufig sogar. Jungwuchs von Bäumen nicht.
Rehe sind von ihrer Natur her Bewohner von Wiesen und dem Waldrand.
Die Jagd treibt die Tiere in den Wald hinein, wo sie dann keine - für sie lebenswichtigen - Gräser und Kräuter finden und ihnen nichts anderes bleibt, als an Knospen zu knabbern. Durch die Jagd werden die Tiere unnötig aufgescheucht, was ihren Nahrungsbedarf und damit die Fraßschäden weiter erhöht. · Bild: WildMedia · Shutterstock.com
Daher ist die Flur der weitaus geeignetere Lebensraum für Rehe als der Wald. Mehr Bejagung zwingt sie aber noch mehr in den Wald - und vergrößert damit die Verbissschäden. Der Rehbestand in Deutschland ist sehr groß und produktiv. Der Abschuss schöpft kaum den jährlichen Zuwachs ab, trotz größter Bemühungen. Weil die Scheu die Rehe immer schwerer bejagbar macht.
Den Rehen geht es nämlich an sich gut in der Kulturlandschaft. Die allgemein starke Düngung hat die Pflanzen, von denen sie leben, nahrhafter gemacht. Das äußert sich in der Häufigkeit von Zwillingsgeburten. Die starke Bejagung hält den Rehbestand auf hohem Niveau. Sie führte in eine Sackgasse, aus der man nicht herauskommt, wenn noch tiefer hinein gefahren wird.
Im Gegenteil. Der Verbiss steigt weiter, bis die Rehe fast ausgerottet sind. Weil die ihnen aufgezwungene Scheu verhindert, dass sie ihrer Natur gemäß weitgehend im Freien leben. Dürften sie dies, käme das nicht nur der Naturverjüngung im Wald ganz von selbst zugute, sondern die Häufigkeit der Wildunfälle würde abnehmen. Rehe, die nicht bei Nacht und Nebel über Straßen müssen, geraten auch nicht unter die Räder. Sie können lernen, sich auf den Straßenverkehr einzustellen. Was ja wohl nicht verkehrt wäre. Denn die für die allermeisten Rehe tödlichen, an den Autos aber »nur Blechschäden« verursachenden Kollisionen sind mit sehr hohen Kosten verbunden. Ohne Personenschäden an den Autos jeweils mehrere tausend Euro. Und dies bei rund 200.000 Rehunfällen pro Jahr. Also alljährlich Schäden im mehrstelligen Millionenbereich.
Ein weiterer Vorteil käme hinzu: Die Rehe würden wieder sichtbar. Wären sie nicht so scheu, ließe sich viel leichter feststellen, wie groß die Bestände tatsächlich sind. Und wie verteilt. Der Verbiss ist dafür kein guter Weiser. Er ist rein auf den Waldbau bezogen. Manche Baumarten würden in den betreffenden Wäldern nicht aufkommen, weil sie von Natur aus gar nicht vorkämen. Wie Douglasien, die im Staatsforst gepflanzt werden, oder Fichten im Auwald an der Alz, im Naturschutzgebiet mit mehr oder weniger regelmäßigen Überschwemmungen.
Anzumerken ist auch, dass die seit Jahren so intensive Bewirtschaftung des Staatsforstes die Massenausbreitung der Drüsigen Springkräuter fördert, die ein Aufwachsen von Naturverjüngung der gewünschten Waldbäume verhindern. Die Rehe sind daran gewiss nicht schuld. Und auch nicht, dass früher Fichten großflächig gepflanzt worden waren, wo von Natur aus Buchen vorkommen würden oder Laubmischwald.
Die Fehler der Forstwirtschaft sind den Rehen nicht anzulasten. Auch nicht der Gesellschaft, die dafür wieder einmal zahlen soll. Die Menschen, viele Menschen, würden bei uns gern auch mal Rehe erleben, die nicht in wilder Panik davon stürmen oder nachts eine gefährliche Vollbremsung auslösen. Mit weiter verstärktem Rehabschuss werden sich weder der Wald noch das Klima retten lassen.
Dieser Artikel ist als Gastbeitrag von Josef H. Reichholf am 3.9.2020 in der Passauer Neuen Presse erschienen.