Trügerische Küstenidylle: Jagd auf Seehunde im Wattenmeer
Von Guido Meyer und Christiane Hoke
Wussten Sie, dass Hobbyjäger an der deutschen Nordseeküste und auf den Nordseeinseln jedes Jahr Hunderte Robben und Robbenbabys erschießen? Und das, obwohl laut EU-FFH-Richtlinie die Jagd auf Seehunde streng verboten ist? Denn die geschützten Seehunde unterliegen in Deutschland dem Jagdrecht. Sie haben zwar ganzjährig Schonzeit, doch »Seehundjäger« in Schleswig-Holstein und »Wattenjagdaufseher« in Niedersachsen sind befugt, sich um gestrandete, verletzte, verlassene und kranke Robben zu »kümmern«. »Robbenmanagement« wird das gerne genannt. Manche gefundene Robbenbabys haben das Glück, in eine Auffangstation gebracht zu werden. Doch Hunderte verlassene, verletzte oder kranke, meist junge, Robben sterben durch die Hand dieser Seehundjäger mit einem Schuss in den Hinterkopf - angeblich, um ihnen »unnötige Leiden« zu ersparen. Unglaublich, aber wahr: Die Entscheidung über Leben und Tod der geschützten Robben treffen nicht Experten wie Biologen oder Tierärzte, sondern »geschulte« Hobbyjäger.
Seehunde an der Nordseeküste: Seit Jahren rückläufige Bestände
Die Seehund-Populationen an der Nordseeküste sind seit Jahren im Bestand gefährdet. Aktuell haben wir den niedrigsten Bestand seit 2010. 2023 gab es erneut weniger Tiere als 2022.
Seehunde sind nach FFH-Richtlinie streng geschützt. Dennoch sind sie im Bundesjagdgesetz bis heute gelistet. Sie unterliegen damit tatsächlich den jagdbaren Wildtierarten in Deutschland, seit 1974 allerdings mit »ganzjähriger Schonzeit«. Die Jagd des Seehundpelzes wegen ist seit 1974 verboten. Dennoch unterliegen Seehunde dem »Management« der Jagdlobby, denn die Jagdbehörden der Bundesländer können über Abschüsse befinden.
Wer verordnet eigentlich die Jagdzeiten und Schonzeiten? In § 22 Abs. 1 Bundesjagdgesetz heißt es: »Die Länder können die Jagdzeiten abkürzen oder aufheben; sie können die Schonzeiten für bestimmte Gebiete oder für einzelne Jagdbezirke aus "besonderen Gründen", insbesondere aus Gründen der Wildseuchenbekämpfung und Landeskultur, zur Beseitigung kranken oder kümmernden Wildes, zur Vermeidung von übermäßigen Wildschäden, zu wissenschaftlichen, Lehr- und Forschungszwecken, bei Störung des biologischen Gleichgewichts oder der Wildhege aufheben.«
Obwohl streng geschützt: Jäger töten Jahr für Jahr Tausende Seehunde
Aus Ermessen der Jagdbehörde zugelassene Seehundjäger können Einzelabschüsse aus »Hegegründen« tätigen, bei »aussichtslos erkrankten Tieren«, um sie von ihrem Leiden »zu erlösen«. Menschliches Ermessen, menschliche Emotionen, die Natur zu »managen«, wie auch immer, funktioniert seit Jahrzehnten nicht - vor allem dann nicht, wenn Hobbyjäger in unserer Natur mit fragwürdigen Motivationen wie »Freude am Nachstellen und Erbeuten« frei lebender Tiere und mit »Lust am Töten« unterwegs sind.
In der Natur regelt die Umweltkapazität die Oberbestandsgrenze bei allen Wildtieren - übrigens auch in der »Kulturlandschaft«, denn Mutter Natur kennt diesen Begriff nicht. In der bundesdeutschen Kulturlandschaft werden die Wildtierbestände durch die jeweiligen Länder »gemanagt«. Sollten sich die Bestände einer geschützten Wildtierart stark erholen, so könnte die Jagd wieder eröffnet werden. Dies gilt nicht nur für Wälder und Felder, sondern auch an den Küsten und im Nationalpark Wattenmeer. Die Bundesländer regeln die Jagd und die Bestandszahlen von Wildtieren also bis runter in die Reviere.
Robbenbaby an der Nordsee.
»Die vermeintlichen Retter, sogenannte in Schleswig-Holstein für das Robbenmanagement zuständige Seehundjäger, erweisen sich viel zu oft als Henker«, so Ulrich Karlowski, Diplom-Biologe und freier Journalist in seinem Artikel »Seehundjäger - Tod im Watt«. · Bilder: Guido Meyer, Christiane Hoke
Wer regelt die Jagd in den Ländern?
Wer legt das in den Ländern fest? Die Unteren Jagdbehörden sind das hier, zusammen mit einem Jagdbeirat, der von der Unteren Jagdbehörde gebildet wird. Er berät und unterstützt die Untere Jagdbehörde in Fragen der Jagdverwaltung (Vgl. § 35 Landesjagdgesetz Schleswig Holstein, § 37 Abs. 1 Bundesjagdgesetz). Als Mitglieder des Jagdbeirates werden berufen: Kreisjägermeister oder die Stellvertretung, Jägerinnen oder Jäger, die einen gültigen Jagdschein besitzen müssen, je eine Vertreterin oder einen Vertreter der Landwirtschaft und der Forstwirtschaft, die von den berufsständischen Organisationen benannt werden, eine Vertreterin oder einen Vertreter der Jagdgenossenschaften, Vertreterinnen oder Vertreter des Naturschutzes, die jeweiligen Kreisbeauftragten für Naturschutz sowie eine vom Beirat für Naturschutz benannte Person.
Wer entscheidet, ob eine Robbe geschossen wird?
Zurück zu den Seehunden: Seehundjäger und Wattenjagdaufseher erschießen an der deutschen Nordseeküste und auf den Nordseeinseln jedes Jahr Hunderte meist junge Robben. Sie dürfen das. Den Tieren soll so »unnötiges Leiden« erspart werden. Doch ob ein Seehund getötet werden muss, entscheiden Seehundjäger kurzfristig und situativ. Ohne weitere Nachfrage, ohne fachliche Absicherung. Sie sind Hobbyjäger, auch im Nationalpark Wattenmeer. Das Land Schleswig-Holstein zahlt für jeden Einsatz eine Pauschale von 45,- Euro, auch für das Erschießen eines Tieres. So hatte ein Sylter (Hobby-)Seehundjäger nach eigenen Angaben 2016 rund 1.000 Einsätze.
Rantum (Sylt): Seehundjäger erschießt Robbe vor den Augen entsetzter Urlauber
Nordsee-Urlauber berichten wiederholt, dass ihnen ein Seehundjäger erklärte, eine aufgefundene Robbe würde gerettet. Später stellte sich dann heraus, dass das Tier erschossen wurde. So mussten Urlauber am 14.1.2024 in Rantum auf Sylt ansehen, wie eine Robbe tot geschossen wurde: »Wir waren heute den letzten Tag auf der Insel im Urlaub und beim morgigen Spaziergang sind wir von einer Urlauberin angesprochen worden, dass wir aufpassen sollen, weil beim Aufgang Rantum eine Robbe liegt. Da wir zwei kleine Hunde besitzen, haben wir die gleich an die Leine genommen, und im gleichen Moment sahen wir von der anderen Seite am Strand ein Auto kommen. Aus dem Auto stiegen zwei Männer, und in dem Moment versuchte die Robbe, Richtung Meer zu flüchten, aber der Weg wurde ihr versperrt, und man fotografierte das Tier. Ein paar Minuten später wurde die Robbe erschossen!Wir waren erschrocken, was innerhalb von Minuten dort passiert ist. Das hat uns sehr mitgenommen... und wir sind sehr traurig und nachdenklich von der Insel nach Hause gefahren.« B. Heinsohn Quelle: www.stiftung-meeresschutz.org/themen/tourismus-schifffahrt/seehundjaeger/ |
»Lasst uns Aufklärung betreiben!«
In den 1970er Jahren wurden die Bilder der schrecklichen Robbenjagd erstmalig in unsere Wohnzimmer transportiert. Die berühmte französische Schauspielerin Brigitte Bardot war eine der ersten großen Aktivistinnen gegen die Robbenjagd. Sie zeigte mit schockierenden Filmaufnahmen, wie tausende Robben brutal erschlagen wurden und wie riesige Blutlachen auf dem Eis entstanden. Damals war Robbenfell auch in Deutschland noch für die Modeindustrie sehr begehrt.
Doch es sollte rund 30 Jahre dauern, bis die Robbenjagd endlich verboten wurde: Erst seit 2010 ist der Handel mit aus Robben hergestellten Produkten EU-weit verboten.
Darum: Lasst uns weiter Daten und Fakten in die Bevölkerung transportieren, lasst uns Aufklärung betreiben! Brigitte Bardot und viele andere Tier- und Naturschützer zeigen, dass es funktioniert - auch wenn es 30 Jahre dauert.
Quellen:
· Ulrich Karlowski: Seehundjäger – Tod im Watt. Deutsche Stiftung Meeresschutz, 14.1.2024
· Protest gegen Seehundrichtlinie: Jäger ohne Kontrolle. Taz, 6.9.2019 taz.de/Protest-gegen-Seehundrichtlinie/!5619732/
Guido Meyer, 1962 in Braunschweig geboren, ist begeisterter Wildlife-Fotograf. Mit seinen Bildern möchte er für die frei lebenden Tiere und die Natur vor unserer Haustür begeistern. Bei seinen Streifzügen durch die Natur wurde er zwangsläufig mit dem Thema Jagd konfrontiert und machte Erfahrungen mit Hobbyjägern: »Selbst in Naturschutzgebieten wird weiterhin gejagt, werden Fallen aufgestellt, Treibjagden veranstaltet. Mit einem völlig anderen Verständnis von Natur und Naturschutz im Gesamtkontext entdeckte und erfuhr ich unfassbare Dinge. Erst Ungereimtheiten, Widersprüche, später auch durch immer tieferes Recherchieren erkannte ich Zusammenhänge, von denen kaum jemand weiß.« Hier berichtet Guido Meyer von seinen Foto-Exkursionen, seinen Erfahrungen und Recherchen: Homepage: https://naturdigital.online/ Facebook: www.facebook.com/naturdigital.online Instagram: www.instagram.com/naturdigital.online |