STADTNATUR - Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen
Buchvorstellung von Julia Brunke, Redaktion »FREIHEIT FÜR TIERE«
»Land« = blühende Landschaften und Artenvielfalt, »Stadt« = Beton und Ödnis? Eine Vorstellung, die längst so nicht mehr gilt. Der bekannte Zoologe, Ökologe und Bestseller-Autor Prof. Dr. Josef H. Reichholf unternimmt in seinem neuen Buch »Stadtnatur - Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen« einen Streifzug durch die vielfältigen Ökosysteme des urbanen Raums. Ob Wildschweine, Füchse und Nachtigallen in Berlin, Wanderfalken in Köln oder eine bunte Vogelwelt und Rehe im Englischen Garten in München: viele Wildtiere haben den Lebensraum Stadt längst für sich entdeckt. Inzwischen sind unsere großen Städte sogar Inseln der Artenvielfalt geworden, die sogar mit den besten Naturschutzgebieten mithalten können.
In den Städten finden Tiere und Pflanzen die Biotope, die sie für ihr (Über)Leben brauchen. Hier sind sie weniger Gefahren ausgesetzt als auf dem Land, wo freilebende Tiere gejagt und ihre Lebensräume durch eine industriell betriebene Land- und Forstwirtschaft vernichtet werden. Josef H. Reichholf deckt unbequeme Wahrheiten wissenschaftlich untermauert auf und spricht Klartext. Zugleich öffnet er uns die Augen für unsere Mitgeschöpfe und zeichnet ein liebevolles Bild von Wildschweinen, die den Straßenverkehr meistern, von Füchsen, die Mittagsschlaf im Garten halten oder von Vögeln im Park, die Menschen von Weitem erkennen, die sie regelmäßig füttern. Ein bewusst provokantes Buch, das beweist, dass ein friedliches Miteinander von Mensch und Natur funktionieren kann - unsere Städte zeigen eindrücklich, wie das geht.
Nachtigallen in Berlin und Wanderfalken am Kölner Dom
Prof. Reichholf beginnt sein Buch mit drei persönlichen Erlebnissen. Das erste Erlebnis stammt aus dem Berlin direkt nach der Wiedervereinigung. Er war mit dem Flugzeug von München gekommen. Als der Zoologe bei seinem Hotel aus dem Taxi stieg, traute er seinen Ohren kaum: Der »Schlag« einer Nachtigall war mitten im Stadtgedröhn zu hören! »Es war nicht nur „ein Schlag“, sondern ein vollständiger, voll klingender Gesang der Nachtigall«, erinnert sich Josef H. Reichholf. Von Berliner Ornithologen erfuhr er, dass es über tausend Nachtigallen sind, die im Stadtgebiet singen. In Berlin lebten damals, Anfang der 1990er-Jahre, ähnlich viele Nachtigallen wie in ganz Bayern zusammen.
Wanderfalken am Roten Rathaus in Berlin und am Kölner Dom sind das zweite Erlebnis, von dem der Wissenschaftler zur Einführung berichtet. Denn die Wanderfalken drohten damals durch den Einsatz von Umweltgiften, vor allem DDT, global auszusterben. Das Comeback der Wanderfalken gelang ausgerechnet über die Großstädte: »Nicht in der wilden Natur lag offenbar ihre Zukunft, sondern über dem höchst naturfernen Häusermeer!«, schreibt Prof. Reichholf.
Ein Braunbär im Museum
Als drittes persönliches Erlebnis schildert Josef H. Reichholf den Abschuss von Braunbär Bruno: »Hätte Bruno, wie der Braunbär genannt worden war, der über hundert Jahre nach der Ausrottung der Bären in den Bayerischen Alpen als Erster auf eigenen Pfoten von Österreich her die Grenze überschritt, wie die Wanderfalken in München leben können, würde er wohl noch immer am Leben sein.« Doch Braunbär Bruno wurde am 26. Juni 2006 im behördlichen Auftrag an der Rotwand in den oberbayerischen Alpen abgeschossen. »Der Bär war nicht bloß unerwünscht in der ‚bayerischen Kulturlandschaft’, sondern nicht zu dulden, zumal er sich nach Bärenart auch aufgerichtet hatte, um die Lage zu sondieren. Was er bei seiner Suche nach Nahrung ‚anrichtete’, das hätten seine Freunde, und Bruno hatte deren viele, sicherlich liebend gern beglichen«, so Prof. Reichholf.
»Dass das Todesurteil für Bruno dem damals letztlich in oberster Instanz zuständigen Ministerpräsidenten politisch nicht gut bekam, erfüllte nachträglich viele Menschen mit einer gewissen Genugtuung. Bruno landete, gut präpariert, nach einigem Hin und Her im Münchner Museum »Mensch und Natur«. Was es dort über die Jahre an eine Art Beileidsbrett an Bekundungen von Betroffenheit, Mitgefühl und Wut auf die für Brunos Tod Verantwortlichen angeheftet zu lesen gab, müsste der Bayerischen Staatsregierung zu denken gegeben haben.«
Ist das Wildschwein in der Stadt kein »Wild«-Schwein mehr?
Berlin ist nicht nur die »Hauptstadt der Nachtigallen«, sondern auch »Hauptstadt der Wildschweine«. Mehrere Tausend Wildschweine leben mitten im Stadtgebiet. »Und das nicht nur am Rande, sondern integriert mit ziemlich normalem Wildschweinleben, das Führen von Jungen durch den Stadtverkehr mit eingeschlossen«, berichtet Prof. Reichholf. »Es kann in manchen Stadtvierteln geschehen, dass sich in einem Vorgarten mit geschütztem Winkel ein trächtiges Wildschwein niederlässt, die Jungen zur Welt bringt, sie dort einige Zeit im Lager hält, versorgt und dann mit der Schar von Frischlingen umherstreift. Die Mutter versteht es, ihre Kleinen über die Straßen zu führen. Sie kommt mit den Verkehrsampeln zurecht, die die Autos immer wieder zum Stehen bringen und so ein gefahrloses Wechseln über die Straße ermöglichen.«

Wildschweinen und Füchsen geht es in großen Städten wie hier in Berlin ungleich besser
als draußen auf dem Land, wo sie intensiv gejagt werden. In der Stadt verlieren sie ihre unnatürliche Scheu. Die intelligenten Tiere finden sich im Straßenverkehr zurecht und wissen sogar Ampelphasen zu nutzen. · Bild: Florian Möllers
Immer wieder gibt es atemberaubende Fotos, wenn eine Wildschweinmutter mit ihren Frischlingen an Passanten vorbeizieht. Natürlich würde Mutter Wildschwein ihre Kinder entschlossen verteidigen, wenn sie bedroht würden, erklärt der Zoologe. Die Erfahrungen des Stadtlebens hätten sie aber gelehrt, dass Menschen in aller Regel ungefährlich sind. »Sind die Jungen groß genug, nimmt sie Mutter Wildschwein zu der ihr bekannten Frittenbude mit, wo erwartungsgemäß immer etwas abfällt oder direkt gegeben wird. Kommt sie mit Frischlingen, steigert dies die Spendenbereitschaft.« Die Berliner Bevölkerung sei offenbar besonders tierfreundlich-tolerant.
Für die Wildschweine ist es in der Stadt trotz des Verkehrs ungleich sicherer als in Wald und Flur: »Draußen auf dem Land werden sie intensiv gejagt«, so Prof. Reichholf. »Mit immer geringeren Schonzeiten oder gar keiner mehr.« Doch obwohl immer mehr Wildschweine geschossen werden, nehmen die Bestände weiter zu. Die Jagd scheint nicht geeignet zu sein, Wildschweine zu »regulieren«. Die eigentlich tagaktiven Tiere verstecken sich und trauen sich nur im Schutze der Dunkelheit heraus. In der Stadt dagegen können sie frei leben und ihre ursprünglichen Verhaltensweisen zeigen.
Nach Jahrzehnten, in denen Wildschweine schon frei in Städten lebten, erledige sich eigentlich die Frage, ob sie noch »wilde« oder vielleicht so etwas wie »halb zivilisierte« Schweine sind, so der Zoologe. Jäger mögen dies »unnatürlich« finden: Für Jäger haben Wildschweine, die sie schießen wollen, »wild« zu sein, also Menschen zu fliehen. »Die Wildschweine selbst dürften die Jägersicht hingegen gänzlich unnatürlich finden, weil sie ihrer Schweinsnatur nach nichts gegen Menschen haben, außer diese trachten ihren nach dem Leben.«
»Wild« hätten sie die Jäger gemacht, nicht ihre Natur. Das Wort »wild« sollten wir daher streichen, wenn wir das Leben der Tiere in der Stadt betrachten, meint Josef H. Reichholf. Es sind eben keine »wilden«, sondern frei lebende Tiere. »Vermindert sich die Scheu vor den Menschen, werden nach und nach ihre wirklichen Lebensansprüche sichtbar.« Und: »Ein Tier, das gelernt hat, dass es die Menschen in der Stadt nicht verfolgen, ist nicht degeneriert, sondern clever!«
Großstädte: Mehr Artenvielfalt als in so manchem Naturschutzgebiet
In Deutschland werden außer in den Siedlungsgebieten überall Tiere gejagt. Auch in Naturparks. Auch in Naturschutzgebieten. Und auch in Nationalparks. Eigentlich sollten die Natur und die darin lebenden Tiere in Naturschutzgebieten und erst recht in Nationalparks streng geschützt sein. »Menschen sind darin nur Gäste auf (kurze) Zeit, aber keine Nutzer«, erklärt Prof. Reichholf. »Allerdings entspricht keiner unserer deutschen Nationalparke diesem Ideal, weil es kleine, politisch sehr einflussreiche Nutzergruppen verstanden haben, sich trotz Nationalpark-Status solche Privilegien wie die Jagd weiterhin zu sichern. Gerade sie ist eines der Kernprobleme für das Funktionieren der Naturschutzgebiete.« Denn während Naturfreunde draußen bleiben müssen, würden Hobbyjagd und Angelsport in Naturschutzgebieten nahezu uneingeschränkt weitergeführt - und das auch noch ohne die lästige »Störung« durch Tier- und Naturfreunde. Während Gewässer-Schutzgebiete für »die Öffentlichkeit« gesperrt seinen, blieben sie aber fast ausnahmslos für Angler zugänglich. Für die Bruten seltener Wasservögel an solchen »geschützten« Ufern habe die Privilegierung der Angler verheerende Folgen.«
Im Stadtpark mit eventuell vorhandenen Gewässern würden die darin freilebenden Tiere mehr Schutz vor Verfolgung finden als in (deutschen) Naturschutzgebieten, kritisiert der renommierte Zoologe und Ökologe. Der Schutz vor Verfolgung stelle damit für zahlreiche Tiere einen ganz wesentlichen Positivfaktor für das Leben in der Stadt dar. »Ein größerer Stadtpark kann daher beträchtlich mehr für den Artenschutz bewirken als so manches Naturschutzgebiet - und draußen sehr scheue Tiere für die Menschen in der Stadt zudem bestens beobachtbar machen.«
Und so sind große Städte mit ihren vielen Parks, Seen und Flüssen, dem Mosaik privater Gärten und Schrebergärten sowie Industriebrachen zu Inseln der Artenvielfalt geworden. »Die Stadtlandschaft nimmt zwischen 10 und 15 Prozent der Landesfläche ein«, erklärt Prof. Reichholf.
Die Naturschutzgebiete brächten es zusammen nur auf ein Zehntel davon - sie seien schlicht zu klein, um das Überleben der darin lebenden Tierbestände, etwa die Vögel in Vogelschutzgebieten, zu sichern.
Reiche Vogelwelt in Großstädten: Mindestens genauso viele Vögel wie Menschen
»Inzwischen steht zweifelsfrei fest, dass es wohl in allen Städten, und besonders auch in Großstädten, sehr viele Vögel in großer Artenvielfalt gibt«, schreibt Prof. Reichholf. Die Städte liegen mit ihrer Vielfalt an Vogelarten deutlich über jeweils gleich großen Flächen ihres Umlandes - und das gilt besonders für große Städte mit über hunderttausend Einwohnern. »In der Vogelmenge übertreffen alle Stadtgrößen (auf wiederum gleiche Flächengröße bezogen) ihr Umland noch stärker. Allenfalls der besonders vogelreiche Auwald kommt auf gleiche Häufigkeit.« In den Städten gibt es mindestens so viele Vögel wie Menschen.
Berlin ist wohl die Großstadt mit der größten Zahl an Vögeln. Hamburg ist die Großstadt mit der größten Artenzahl, da der Stadtstaat mit einem Stück Meeresküste auch ein vogelreiches Biotop mit Seevögeln besitzt.
»Ob Stadt oder Land, ob Wald oder Gewässer, in erster Linie entscheidet das Ausmaß der Strukturiertheit über den Artenreichtum«, so der renommierte Zoologe. »Großflächig einheitliche Lebensbedingungen bleiben artenarm.« Dies erklärt, warum in den letzten Jahrzehnten durch die industrielle Landwirtschaft mit Monokulturen sowohl die Artenvielfalt als auch die Zahl der Vögel dramatisch zurückgegangen ist. Ebenso sind viele Wälder als Holzplantagen arm an Vogelarten und auch an der Zahl der Vögel.
Der große Artenreichtum der Städte sei eine Folge der günstigeren Einstellung der Stadtbevölkerung, erläutert Josef H. Reichholf weiter. Diese drücke sich durch eine umfassende und großzügige Winterfütterung aus sowie durch einen weit geringeren Einsatz von Giften. Daher gebe es im Stadtgebiet vielerorts mehr Insekten als Nahrung für die Nestjungen.

Die Zahl der nistenden Vogelarten nimmt mit der Größe der Stadt zu:
Auf gleiche Flächen bezogen, übertreffen die Städte den Landesdurchschnitt erheblich. »In Berlin und Hamburg gibt es mehr Vogelarten als in den besten Vogelschutzgebieten Mitteleuropas«, erklärt Prof. Reichholf. · Grafik aus: Reichholf Stadtnatur. Copyright: oekomVverlag

»Unsere Städte sind sehr artenreich an Schmetterlingen, insbesondere an solchen, die nachts fliegen.
In München (Graphik) übertreffen sogar innenstadtnahe Bereiche das artenarme Umland, am Stadtrand stürzt der Artenreichtum regelrecht ab. Freigelände in den Städten bergen die größte Vielfalt an Arten. Werden diese zugebaut, verlieren wir die letzten rettenden Inseln für die Biodiversität.« · Grafik aus: Reichholf Stadtnatur. Copyright: oekomVverlag
Auf dem Land: Gift und Güllefluten
Früher fuhr man von der Stadt aufs Land, um »die gute Landluft« zu genießen. Denn in der Stadt war die Luft durch Industrie und Verkehr stark belastet. Durch aufwändige und teure Verbesserungen wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Luft in den Städten und Industriegebieten immer sauberer. Sogar im Ruhrgebiet, wo früher Menschen vorzeitig an Smog starben, ist der Himmel wieder blau. Umweltprobleme gibt es dagegen durch die industrielle Landwirtschaft auf dem Land: durch immer größere Güllefluten, Feinstaub und versprühtes Gift, das über weite Ackerflächen ohne Hecken und Windschutzgehölze bis hinein in die Siedlungen getragen wird. »Die Landwirtschaft blieb freigestellt von all den Auflagen und Beschränkungen zur Verbesserung der Luft (und der Gewässer)«, schreibt Prof. Reichholf. »Das freie Land wird mit der dreifachen bis fünffachen Menge der menschlichen Abwässer mit Gülle überschwemmt.«
Die Gülle belastet die Böden, erstickt das Bodenleben und vergiftet Gewässer und das Grundwasser mit Nitrat und antibiotikaresistenden Keimen. Durch Gülle und Mist aus der Massentierhaltung entsteht zusätzlich mehr Feinstaub als im Straßenverkehr. Und: Entgegen aller Erfahrungen der letzten Jahrzehnte setzt die industrielle Landwirtschaft weiter auf den Einsatz von sehr viel Gift. Herbizide, allen voran Glyphosat, vernichten die für die Tierwelt so wichtigen Kräuter und tragen zusammen mit den Fungiziden Gift in die Nahrungsketten. Insektenvernichtungsmittel wie die hochgiftigen Neonicotinoide töten auch nützliche Insekten und beschleunigen das Vogelsterben.
Direkte Verfolgung auf dem Land
Während die Flurbereinigung mit der Abholzung von Hecken und Bauminseln und der Trockenlegung von Feuchtgebieten Agrarwüsten geschaffen hat, sind die Wälder zu Holzplantagen verkommen. Wildlebende Tiere sind kaum zu sehen: Die ständige Verfolgung durch die Jagd hat sie sind scheu gemacht, sie fliehen vor den Menschen.
»Sie werden zum Vergnügen geschossen, nicht aus Notwendigkeit. Auch nicht, um Bestände zu regulieren, die ansonsten außer Kontrolle geraten könnten«, prangert der renommierte Zoologe die Hobbyjagd in Deutschland an. »Bei den wenigen Wildtieren, deren Bestände aus wirtschaftlichen Gründen begrenzt gehalten werden sollten, gelingt dies in unserem Jagdsystem den Jägern offenkundig nicht.« Denn die Bestände von Rehen und Hirschen bewegen sich seit Jahrzehnten auf sehr hohem Niveau. Bei Wildschweinen nehmen sie sogar - trotz (oder wegen) massiver Bejagung - immer weiter zu. Auf der anderen Seite werden die Bestände anderer Tierarten drastisch vermindert bis zur großflächigen Ausrottung.
Auf dem »Freiland« herrscht keineswegs die große Freiheit - in der Stadt finden frei lebende Tiere Sicherheit vor Verfolgung
Auf dem »Freiland« herrscht also keineswegs die große Freiheit. Die Bejagung macht Tiere scheu, führt zu großen Fluchtdistanzen und drängt von Natur aus tagaktive Tiere wie Füchse, Rehe und Wildschweine in das Dickicht der Wälder und in die Nacht. Tiere, die das ganze Jahr Angst vor Jägern haben müssen, zeigen auch kein Spielverhalten - sie sind im Überlebensmodus, ständig in Anspannung. Die Wildtiere seien nicht in die Städte gekommen, weil es ihnen von Anfang an darin besser gefiel als in der freien Natur: »Vielmehr fanden sie mehr Sicherheit vor Verfolgung«, so Josef H. Reichholf.
Fast alle mitteleuropäischen Säugetierarten leben auch in Städten: von Eichhörnchen, Dachsen, Mardern, Füchsen und Wildschweinen bis zu Rehen, die abends in Berliner Parks oder im Nymphenburger Schlosspark in München zu beobachten sind. Ausnahmen erklären sich durch spezielle Lebensräume wie das Hochgebirge beim Steinbock oder durch die Körpergröße wie beim Rothirsch. Doch selbst Hirsche kommen vereinzelt in Ortschaften: So machten zwei Hirsche mit ihren regelmäßigen Besuchen die Ortschaft Katzhütte im Thüringer Schiefergebirge im Sommer 2008 in ganz Deutschland und sogar im benachbarten Ausland bekannt. Im Winter 2019 wurde von kleinen Hirschgruppen berichtet, die bei geschlossener Schneedecke auf der Suche nach Nahrung in die Ortschaft Walchensee im Voralpenland kamen. In Nordamerika suchen Weißwedelhirsche den Schutz in Vorgärten, wenn die Jagdsaison begonnen hat.
Fledermäuse finden in Stadtparks mehr alte Bäume mit Baumhöhlen als in Wirtschaftsforsten
Auch die ganz kleinen Säugetiere, die Fledermäuse - die meisten davon in Deutschland gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht - besiedeln die Städte, wenn es darin für sie passende Biotope gibt. »Im Stadtgebiet von Berlin leben nahezu alle mitteleuopäischen Fledermausarten«, erfahren wir in »Stadtnatur«: in Kellern, Gewölben, Stollen und Bunkern sowie in Baumhöhlen. Denn in Stadtparks und Gärten finden sie mehr geeignete alte Bäume mit geeigneten Höhlen als in Wirtschaftsforsten, in denen Bäume nicht alt werden dürfen - und morsche Bäume und »Totholz« (das in Wirklichkeit sehr lebendig ist) gefällt
»In den Städten findet mehr Tierleben auf natürliche Weise statt als auf industriell bewirtschafteten Feldern und Forsten«
Das städtische Mosaik mit großen Parks, Stadtwäldern, Gärten, Flüssen, Seen und Brachflächen bietet eine Vielzahl an Lebensräumen, in denen freilebende Tiere Unterschlupf und Nahrung finden. »Dass mehrere Tausend Wildschweine in Berlin leben können, drückt aus, wie viel qualitativ hochwertige Nahrung ihnen dort zur Verfügung steht, und darüber hinaus, wie wildtiertolerant die (Berliner) Stadtbevölkerung ist«, schreibt Prof. Reichholf.
Die Stadtnatur sei nicht weniger komplex als die freie Natur in Wald und Flur, so der Zoologe. Das werde oft übersehen, weil man die Stadt für »künstlich« hält. »Doch die Fluren, zumal die agro-industriell (= konventionell) bewirtschafteten, sind tatsächlich künstlicher im Sinne von naturferner.« Auch die Wälder könnten »natürlicher« sein, würden sie nicht so sehr als Forste bewirtschaftet und jagdlich gemanagt werden. »Daher darf sehr wohl behauptet werden, dass mehr Tierleben auf natürliche Weise in Städten stattfindet als in großen Standardforsten aus Monokulturen von Fichten und Kiefern.« Der deutsche »Wald« werde gerne romantisch verklärt. Die Waldwirklichkeit wolle man lieber nicht zur Kenntnis nehmen.
Für viele Säugetiere, die auf dem Land fast das ganze Jahr von Jägern gejagt und erschossen werden, sei die Sicherheit, die ihnen die Stadt bietet, ein entscheidender Faktor, erklärt Josef H. Reichholf: »Sie werden in den Städten nicht oder nur in Ausnahmefällen verfolgt. Trotz Straßenverkehr, dem so manches Säugetier zum Opfer fällt, lebt es sich für die allermeisten von ihnen sicherer in der Stadt als auf dem Land«. Am besten lasse sich dies bei den Stadtfüchsen beobachten, weil viele von ihnen in der Stadt wieder ihr natürliches Verhalten zeigen und mit ihrer tagaktiven Lebensweise vielfältig zu beobachten sind. Außerdem werden Füchse in der Stadt kaum überfahren, weil sie mit ihrer füchsischen Umsicht besser mit dem Verkehr zurechtkommen als Hauskatzen, so der Zoologe. »Dass sich Füchse am (Dosen-)Futter, das für Katzen und Igel auf Terrassen bereitgestellt wird, gern mitbedienen, ist ihnen nicht zu verdenken. Machen sie ein Schläfchen an gut sichtbarer Stelle im Garten oder gar auf einer Hollywoodschaukel, fliegen ihnen die Herzen zu.«
Dies zeigt, dass »Wildtiere« in Wirklichkeit gar nicht so wild sind, wenn sie in Freiheit ohne Verfolgung durch den Menschen leben können. In den Städten zeigt sich so etwas wie ein »Nationalpark-Effekt«: Die Tiere verlieren ihre unnatürliche Scheu vor dem Menschen, sind am helllichten Tag zu beobachten mit einem entspannten, vertrauten und verspielten Verhalten.
Friedliches Miteinander mit frei lebenden Tieren
»Die Stadtbevölkerung akzeptiert nicht nur das Miteinander mit freilebenden Tieren, sondern viele Menschen setzen sich aktiv dafür ein«, schreibt Josef H. Reichholf. »Deshalb können in Städten seltene Arten leben, die es in der freien Natur schwer haben, weil sie extrem scheu sein müssen.« Die teilnehmende Rücksichtsnahme eröffne die Möglichkeit, dass Tiere von sich aus auf uns zukommen. Und das mache den großen Unterschied zum Land aus. Auch auf dem Land gebe es Menschen, die den Tieren sehr wohlgesonnen sind. »Menschen, die sogar die frustrierenden Kämpfe auf sich nehmen, gerichtlich zu erstreiten, dass ihr Land aus der bejagbaren Fläche ausgeschieden wird, weil sie nicht wollen, dass darauf Tiere erschossen werden. Das, was für die an Tieren Interessierten in den Städten normal und selbstverständlich ist, muss draußen erkämpft werden. Was für ein Unterschied!«
Josef H. Reichholf warnt daher auch vor der Nachverdichtung unserer Städte: »Es wäre fatal, wenn wir städtische Brachflächen überbauen würden, denn gerade hier entstehen oft besonders artenreiche, mitunter seltene Tier- und Pflanzen-gemeinschaften.« Auf der anderen Seite müsse der Verlust monotoner und überdüngter Ackerflächen nicht betrauert werden, wenn dafür klug geplante, gartenstadtähnliche Wohnsiedlungen entstehen. »Die gängige These, dass die ›böse Stadt das gute Land frisst‹, ist nicht mehr haltbar!«, so Josef H. Reichholf.
Ein bewusst provokantes Buch, das beweist, dass ein friedliches Miteinander von Mensch und Natur funktionieren kann - unsere Städte zeigen eindrücklich, wie das geht.