Hirsche und Rehe schaffen Nistmöglichkeiten und fördern die Biodiversität
Ein Forschungsteam der Universität Oxford dokumentierte in den Wäldern des Bialowieza-Nationalparks in Polen viele Bäume mit Schälspuren durch große Pflanzenfresser.
Durch anschließende Zersetzungsprozesse entstehen Baumhöhlen, die höhlenbrütenden Vögeln als Nistmöglichkeiten dienen. Dadurch gibt es hier - im Gegensatz zu reinen Kulturwäldern - zahlreiche höhlenbrütende Vogelarten. · Bild: Wojciech Nowak - Shutterstock.com
Die Forstpolitik behauptet, große Pflanzenfresser wie Hirsche oder Rehe würden den Umbau des Waldes hin zu natürlichen Mischwäldern verhindern und der Biodiversität schaden - und müssten daher scharf bejagt werden. Doch aktuelle Forschungen zeigen: Das Gegenteil ist der Fall! Große Pflanzenfresser schaffen Lebensräume - zum Beispiel wichtige Nistmöglichkeiten für viele Vogelarten und essenzielle Mikrolebensräume für Kleinsäuger und Insekten. Vor dem Hintergrund des dramatischen Vogel- und Insektensterbens in den letzten Jahren und Jahrzehnte ist dies überaus bedeutsam: So ging die Zahl der im Wald lebenden Vögel einer Studie zufolge in den letzten 40 Jahren trotz größerer Waldflächen um fast ein Fünftel zurück!
Baumhöhlen sind lebenswichtige Mikro-Lebensräume im Ökosystem Wald, welche Nistmöglichkeiten und Rückzugsorte für eine Vielzahl von Vogelarten und Kleinsäugern bieten. Doch weil unsere Wälder keine natürlichen Wälder, sondern Forstkulturen sind, gibt es kaum Baumhöhlen, da alte und sich bereits zersetzende Bäume aus den Beständen entfernt werden. »Hinzu kommt, dass auch die Anzahl der Tiere, welche zum Entstehen solcher Baumhöhlen beitragen, durch die Forstpolitik reduziert wird«, schreibt Dr. Nina Krüger, Chefredakteurin des Magazins »Vögel« unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Untersuchungen. Denn das Fehlen solcher Baumhöhlen habe möglicherweise einen direkten Einfluss auf die Anzahl und Vielfalt der Vögel und anderer Tiere, die auf das Vorhandensein solcher Nist- und Rückzugsmöglichkeiten angewiesen sind.
In den Wäldern des Bialowieza-Nationalparks in Polen ist die Zusammensetzung der höhlenbrütenden Vogelarten im Gegensatz zu reinen Kulturwäldern noch weitgehend intakt. Ein Forschungsteam um den britischen Ornithologen Dr. Richard Broughton von der Universität Oxford dokumentierte dort viele Bäume mit Schälspuren unterschiedlichen Alters.
Besonders im Winter und Frühjahr, wenn Pflanzennahrung knapp ist, ziehen große Pflanzenfresser Baumrinde in Streifen ab. An diesen Schälstellen entstehen durch anschließende Zersetzungsprozesse Baumhöhlen. Auch beim Verfegen der Basthaut am Ende des jährlichen Geweihwachstums können solche länglichen Vertiefungen und damit neue Mikrolebensräume entstehen. Höhlenbrütende Vogelarten wie Blaumeise, Kohlmeise, Sumpfmeise, Halsbandschnäpper, Trauerschnäpper, Rotkehlchen und sogar die Amsel bevorzugen solche länglichen Schlitze in Rinde und Holz als Nistplatz.
Vergleichende Untersuchungen zeigen: In Großbritannien, wo große Pflanzenfresser in weiten Teilen gänzlich fehlen, sind diese länglichen Vertiefungen selten zu finden.
Hirsch im Schweizerischen Nationalpark.
Studien im Nationalpark zeigen: Auf Wildwechseln wachsen 30-mal mehr Baumkeimlinge als außerhalb von Wildwechseln. Die großen Pflanzenfresser nehmen mit der Nahrung Samen auf und verbreiten sie auf ihren Wanderungen. Denn Samen können nicht verdaut werden und finden mit dem ausgeschiedenen Dung optimale Keimbedingungen, wodurch neue Pflanzen entstehen. So leisten große Pflanzenfresser einen wichtigen Beitrag zur Artenvielfalt. · Bild: Bild: Goldziitfotografie - Shutterstock.com
Waldverjüngung: Hirsche pflanzen Bäume
Große Pflanzenfresser wie Rothirsche und Rehe sind Teil unserer Artenvielfalt und unverzichtbar für die Erhaltung der Biodiversität. Sie schaffen nicht nur Lebensräume für Vögel, sondern verbreiten auch Pflanzensamen durch ihre Wanderbewegungen. So tragen sie zu einer natürlichen Verjüngung des Waldes und zur Artenvielfalt bei. Denn auf Wildwechseln wachsen etwa 30-mal mehr Baumkeimlinge als außerhalb von Wildwechseln. Dies zeigen Studien der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, die im Schweizerischen Nationalpark durchgeführt wurden, wo seit 1914 nicht gejagt wird. Trotz angewachsener Hirschpopulation hat die Zahl der Bäume pro 100 Quadratmeter und der dem Verbiss entwachsenen über 150 cm hohen Bäume stark zugenommen.
Die Verjüngung und die Ausbreitung des Waldes scheinen also durch die heutige Hirschdichte im Nationalpark eher gefördert als behindert zu werden. Und: Der Wald ist trotz der relativ hohen Hirschdichte während der letzten Jahrzehnte sogar erfolgreich auf die ehemaligen Weiden hinaus vorgedrungen. Dies zeigen Langzeituntersuchungen und Vergleiche mit alten Luftbildern.
Quellen:
· Dr. Nina Krüger: Hirsche schaffen Nistmöglichkeiten. In: Vögel 3/2023
· Richard K. Broughton et al: Do Large Herbivores Have an Important Role in Initiating Tree Cavities Used by Hole-Nesting Birds in European Forests? Acta Ornithologica 57(1), December 2022. https://doi.org/10.3161/00016454AO2022.57.1.007
· Vogelsterben in Europa: Zahl der Vögel in Europa stark zurückgegangen. ZEIT online, 15.5.2023
· Dr. Hans Hertel: Über Sinn und Unsinn des Jagens. In: The Journal of Natural Science 5/2000