Wo Orang-Utan-Waisenkinder ein Zuhause haben
und in die Schule gehen
Die Tierschutzorganisation VIER PFOTEN und ihre indonesische Partnerorganisation Jejak Pulang haben in Wanariset auf Borneo eine Orang-Utan-Station aufgebaut. Hier finden verwaiste Orang-Utans eine Heimat. In der Waldschule erhalten die oft traumatisierten Menschenaffenkinder, die von den Behörden aus Käfigen gerettet wurden, zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten und Lernangebote, die ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten herausfordern und fördern. Und sie werden von menschlichen Ersatzmüttern langsam auf ein Leben in Freiheit vorbereitet: Sie lernen, auf Bäume zu klettern, Nahrung zu suchen und sich ein Nest zu bauen.
Von Sabine Schlimm, VIER PFOTEN
Amalia beäugt das Bananenblatt. Es ist länger als sie selbst - schließlich ist sie mit ihren sechs Jahren noch ein Orang-Utan-Kind. Sie nimmt das Blatt in die Hand und entdeckt den Bananenbrei, den die Tierpfleger auf der Oberfläche verstrichen haben. Sofort beginnt sie, ihn abzulecken, nimmt sich dann das nächste Blatt und macht sich wieder über die Nascherei her.
Es dauert nicht lange, bis sie die abgeleckten Blätter in ihre Hängematte schleppt, um sich daraus auf Orang-Utan-Art ein Nest zu bauen. Erst als sie es sich darin gemütlich gemacht hat, beginnt sie damit, alle Blätter noch einmal einzeln
gründlich zu prüfen. Hat sie etwa irgendwo Brei vergessen? Jetzt nimmt sie sich auch die Zeit, das Mark aus den dicken Stängeln zu fressen. Die Blätter werden sie noch eine ganze Weile beschäftigen. Die Tierpfleger freuen sich darüber.
In der Waldschule finden die oft traumatisierten
Menschenaffenkinder, die von den Behörden aus Käfigen gerettet wurden, eine »Ersatzmutter« und zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten und Lernangebote, die ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten herausfordern und fördern - und sie schließen Freundschaft mit anderen jungen Orang-Utans. · Bild: VIER PFOTEN
Beschäftigung für alle Sinne
In der Orang-Utan-Station Wanariset auf Borneo wird das Thema Enrichments großgeschrieben. Unter Enrichments versteht man Angebote, die Tieren in menschlicher Obhut Anregung geben, ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten mobilisieren und sie herausfordern. Denn Langeweile stresst, und Tiere ohne artgemäße Beschäftigungsmöglichkeit entwickeln häufig Stereotypien wie das bekannte Hin-und-her-Wiegen.
Für Amalia sind die Blätter mehr als ein bloßes Spielzeug. Sie übt damit auch den Nestbau und lernt, welche Pflanzenteile sich als Futter eignen - Dinge, die sie sich als Orang-Utan-Kind normalerweise über Jahre hinweg von ihrer Mutter abschauen könnte. Doch eine Mutter hat sie nicht mehr. Die letzten Jahre verbrachte Amalia zusammen mit dem Orang-Utan-Jungen Eska in einem Privatzoo, der vor kurzem von den Behörden geschlossen wurde. Der Abriss der Käfige hatte schon begonnen, als die beiden Menschenaffen in letzter Sekunde von VIER PFOTEN gerettet und in die neue Station gebracht wurden.
Der Handel mit Jungtieren
und die damit einhergehende Tötung ihrer Mütter beschleunigen den dramatischen Rückgang der Orang-Utan-Population. Denn die Menschenaffen vermehren sich nur sehr langsam: Eine Orang-Utan-Mutter bringt etwa alle vier bis acht Jahre ein einzelnes Kind zur Welt, Zwillinge sind selten. · Bild: VIER PFOTEN
In den ersten Lebensmonaten
klammert sich das Neugeborene am Bauch der Mutter fest. Bis zum Alter von zwei Jahren wird das Baby von ihr getragen und mit Nahrung versorgt. Mit zwei bis fünf Jahren lernt das Orang-Utan-Kind klettern und beginnt, seine Umgebung zu erkunden, ohne allerdings den Sichtkontakt zur Mutter zu verlieren. Es lernt den Nestbau und die Nahrungssuche, denn mit dreieinhalb bis vier Jahren wird es von der Mutter entwöhnt. · Bild: VIER PFOTEN
Lernort Wald
In der Orang-Utan-Waldschule sollen die kleinen Orang-Utans von menschlichen Ersatzmüttern langsam auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden. Sobald sie das Erwachsenenalter erreichen, beherrschen sie dann hoffentlich alles, was sie im Dschungel brauchen, und können in die Freiheit entlassen werden. Der vierjährige Eska verlässt schon mehrfach pro Woche seinen Käfig und lässt sich huckepack von einer Pflegerin in den Wald tragen. Dort trainiert er, auf Bäume zu klettern und sich seine Nahrung selbst zu suchen.
Auch Amalia wird hoffentlich bald den Unterricht in der Waldschule beginnen können. Im Moment bleibt sie allerdings tagsüber noch im Käfig zurück. Ihre Erfahrungen im Zoo, wo sie schutzlos den Blicken und dem Lärm der Besucher ausgesetzt war, haben sie misstrauisch gegenüber Menschen gemacht. Auch wenn sie langsam Vertrauen zum Team der Station fasst: Im Moment weiß niemand, ob sie im offenen Wald in der Nähe ihrer Pflegerinnen bleiben würde. Und für ein Orang-Utan-Kind, das die notwendigen Überlebensfähigkeiten noch nicht erwerben konnte, ist der Dschungel ein gefährlicher Ort.
Sicherheit geht vor
Deshalb arbeitet Projektleiterin Dr. Signe Preuschoft mit Hochdruck daran, die Waldschule zu einem sicheren Zuhause für die Orang-Utan-Kinder zu machen. Eine Sicherheitsfirma wird die Grenzen des Waldstücks gegen Eindringlinge wie Wilderer schützen, und dann wird auch ein kleiner Waldschüler auf Abwegen leicht einzufangen sein. Außerdem soll es gleich vor Ort ein Baumhaus als Unterkunft für die Orang-Utans und einfache Versorgungsräume für die Pfleger geben.
Bis es so weit ist, beschäftigt sich Amalia in ihrem großzügigen fünf Meter hohen Käfig mit den verschiedenen Lern- und Spielangeboten, die ihr die Pfleger zweimal am Tag geben. Ein ausgeklügelter Plan sieht vor, welcher Orang-Utan wann welches Spielzeug bekommt, um seine Fähigkeiten am besten zu fördern. Schon mehr als 25 verschiedene Enrichments hat sich das Team ausgedacht: außer den mit Futterbrei bestrichenen Blättern der verschiedensten Baumarten beispielsweise auch Hobelspäne, in denen essbare Samen versteckt sind, oder Kletterspielzeuge aus Ringen. Je länger sich ein junger Menschenaffe mit einem Spielzeug beschäftigt, desto besser.
Eine Frage der Persönlichkeit
Das klappt bestens - und beim Umgang mit den Enrichments zeigen sich zudem die einzelnen Orang-Utan-Persönlichkeiten. Bei den Blättern zum Beispiel: Während Amalia den Futterbrei möglichst schnell ableckt, um sich erst in der Geborgenheit ihrer Hängematte näher mit den Blättern zu befassen, geht ihr Käfignachbar Robin langsam und überaus gründlich vor. Als Nestbaumaterial verwendet er die Blätter erst, wenn wirklich keine Breireste mehr vorhanden sind.
Robin wird auf Dauer in der Obhut der Station bleiben. Auch er wurde aus einem Privatzoo übernommen. Aber anders als Amalia hat er schon so lange unter Menschen gelebt, dass er vollständig auf sie fixiert ist und mit seinen Artgenossen wenig anfangen kann. Das macht es leider unmöglich, den achtjährigen Orang-Utan irgendwann auszuwildern. Menschliche Siedlungen würden ihn geradezu magisch anziehen, und Begegnungen mit Menschen bedeuten für wildlebende Orang-Utans allzu oft den Tod. Der Rückgang ihrer Population auf Borneo um rund 80 Prozent spricht eine deutliche Sprache.
Orang-Utans kommen heute nur noch
in den tropischen Wäldern der Inseln Sumatra und Borneo in Südostasien vor. Die rotbraunen Menschenaffen sind stark bedroht. Auf Borneo ist ihre Zahl um rund 80 Prozent zurückgegangen. · Bild: VIER PFOTEN
Individuelle Förderung
Umso wichtiger ist es, Robin in der Station ein möglichst artgerechtes Leben zu bieten, das seine Fähigkeiten fördert und ihn vor Langeweile und Frustration bewahrt. Kurzfristig soll er einen noch größeren Käfig bekommen, mittelfristig auch ein großzügiges Außengehege. Und vielleicht findet sich sogar irgendwann ein Orang-Utan-Weibchen, das ebenfalls nicht ausgewildert werden kann und mit dem er sich versteht. Aber das ist Zukunftsmusik. Aktuell setzt das Tierpflegerteam alles daran, Robins Geschick und seine geistigen Fähigkeiten mit Enrichments herauszufordern - und ihn gelegentlich durchzukitzeln, denn das liebt er!
Für das Team der Station um Dr. Signe Preuschoft ist es manchmal eine Herausforderung, gleichzeitig die Infrastruktur der Waldschule aufzubauen, weitere Tierpfleger zu schulen und auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Schützlinge einzugehen. Die sind so unterschiedlich wie die inzwischen sieben Orang-Utans selbst: von Robin, mit seinen acht Jahren bereits im besten Flegelalter, bis zum jüngsten Baby, dem neun Monate alten Gerhana. Doch das gesamte Team ist mit Engagement dabei und kümmert sich liebevoll um die Tiere. Und selbst die menschenscheue Amalia freut sich über jedes neue Spiel, an dem sie ihre Fähigkeiten testen kann.
Orang-Utans vom Aussterben bedroht
Der Lebensraum der Waldmenschen (von den malaiischen Wörtern orang = Mensch und utan = Wald), die heute nur noch auf den Inseln Sumatra und Borneo vorkommen, wird immer kleiner. Mehr als die Hälfte des tropischen Urwaldes auf Borneo ist in den letzten 30 Jahren durch Abholzung oder Brandrodung zerstört worden - für die Papier- und Holz gewinnung und für Palmöl- und Akazienplantagen.
Neben der Zerstörung ihres Lebensraums tragen Jagd, Wilderei und der Handel mit Jungtieren zur Ausrottung der Orang-Utans bei. Orang-Utan-Babys sind eine begehrte Ware auf dem illegalen Weltmarkt für Wildtiere. Sie werden gefangen und als Haustiere verkauft - ihre Mutter wird dabei meist getötet. Dies beschleunigt den dramatischen Rückgang der Orang-Utan-Population. Denn die Menschenaffen vermehren sich nur sehr langsam: Eine Orang-Utan-Mutter bringt etwa alle vier bis acht Jahre ein einzelnes Kind zur Welt, Zwillinge sind selten. Auf Borneo gibt es - je nach Schätzung - nur noch 50.000 bis 100.000 Orang-Utans. Wenn diese dramatische Entwicklung weitergeht, werden die Orang-Utans aussterben.