Zoopharmakognosie: Wie sich Tiere selbst heilen
Von Julia Brunke, Redaktion FREIHEIT FÜR TIERE
Ob Insektenstiche, Parasiten, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Entzündungen oder Prellungen: Wildtiere sind wie wir Menschen konfrontiert mit Bakterien, Viren, Verletzungen und Erkrankungen. Und sie wissen sich in der riesengroßen Apotheke der Natur zu helfen. Immer mehr wissenschaftliche Beobachtungen und Feldstudien bestätigen, dass sich Tiere mit Pflanzen selbst heilen - von gezielter Prophylaxe bis zur akuten Bekämpfung von Beschwerden. Zoopharmakognosie heißt dieser Wissenschaftszweig, der die Selbstmedikation von Tieren erforscht. Doch es stellt sich die Frage: Wie machen Tiere das? Woher wissen sie, welche Pflanze sie heilen kann?

Die Ziege Hippie kam als kleines Kitz zu uns -
und wir Kinder brachten sie auch immer wieder ins Haus zu den Hunden undKatzen. Sonst lebte sie bei den Pferden in der Scheune und auf den Wiesen. Als Hippie alt wurde, bekam sie Gelenkschmerzen, die sie mit Hilfe von Brennnesseln selbst therapierte. · Bild: privat
Eine Ziege, die mit Brennnesseln ihre Knochenschmerzen therapiert
Als ich ein Kind war, hatten wir eine Ziege, Hippie genannt, die mit unserem Hund und den Pferden zusammenlebte. Mein Bruder und ich gingen mit unserer weißen Ziege und unserer blonden Hoverwarthündin regelmäßig im Dorf spazieren - und erregten damit einiges Aufsehen. Hippie ging dabei mindestens so gut bei Fuß wie ein Hund. Als Hippie alt wurde, bekam sie Knochenschmerzen und steife Gelenke - sie hatte Mühe beim Aufstehen und sich Niederlegen. Wir konnten nun beobachten, dass Hippie regelmäßig in hohen Brennnesseln stand und viele Brennnesseln aß. Meine Mutter, die sich mit Heilkräutern auskannte, erklärte: Brennnesseln sind gut gegen Rheuma und Arthritis.
Uns war klar: Hippie isst Brennnesseln, weil sie ihr gegen die Knochenschmerzen helfen. Aber woher wusste sie dies? Von anderen Ziegen konnte sie es nicht gelernt haben, denn meine Eltern hatten sie bereits als kleines Ziegenkitz auf einem Kleintiermarkt aus Mitleid gekauft. Und wir hatten nie eine andere Ziege, Hippie lebte mit uns Menschen, dem Hund und den Ponys zusammen. Für uns war ganz selbstverständlich, dass unsere Ziege weiß, was ihr gut tut. Das war Anfang der 1980er Jahre.
Schimpansen verwenden Naturarznei gegen Würmer und gegen Malaria
In den 1990er Jahren beobachteten die Wissenschaftler Prof. Dr. John P. Berry und Prof. Dr. Eloy Rodriguez, beide Pflanzenbiochemiker an der Cornell University, und der Anthropologe und Primatologe Dr. Richard W. Wrangham Primaten in Uganda und prägten den Begriff »Zoopharmakognosie«. Dies bedeutet in etwa »Wissen von Tieren über die Anwendung von Heilmitteln«. Forscher wiesen nach, dass Schimpansen das Mark der Pflanze Vernonia amygdalina aussaugen, wenn sie von Würmern befallen sind - die Pflanze hat antibakterielle und antiparasitäre Wirkung. Andere Wissenschaftler beobachteten, dass Schimpansen Blätter des Mahagoni-Gewächses Trichilia rubescens vermischt mit Erde essen, was Malaria-Erreger abtötet.
Tiere nutzen Pflanzenmedizin zur Magenreinigung und gegen Würmer
Jeder weiß, dass Katzen Gras essen, um die beim Putzen aufgeleckten Haare erbrechen zu können. Auch Hunde - übrigens ebenso wie Füchse - essen Gras und zum Teil auch Erde, um ihren Magen zu reinigen.
Viele Tiere - wie Pferde, Rinder, Affen, Papageien und andere Vögel, Fledermäuse und Reptilien - essen regelmäßig Lehm oder Erde: Lehm bindet Toxine, Bakterien und Viren, schützt vor Darmbeschwerden, fördert die Verdauung und hilft gegen Blähungen. Lehm enthält außerdem wertvolle Mineralstoffe, Vitamine und Spurenelemente.
Birkhühner, Rebhühner und Auerhühner schlucken Steinchen, um damit unverdauliche Teile ihrer Nahrung im Magen zu zermahlen.
Schafe essen tanninhaltige Pflanzen wie Hornklee, um Würmer loszuwerden. Rehe knabbern bei Wurmbefall Beifuß oder Rainfarn: Beifuß regt die Verdauung an und wirkt gegen Viren, Rainfarn ist auch bei Menschen als Wurmmittel bekannt. Auch Hausschweine, die im Freiland leben, suchen gezielt Kräuter, um Würmer loszuwerden.

Grünspechte - aber auch Eichelhäher, Krähen
und zahlreiche andere Vögel - wehren mit Hilfe von Ameisensäure lästige Parasiten wie Milben und Läuse ab. Der Specht setzt sich in einen Ameisenhaufen und pickt darin herum. Um den Angreifer abzuwehren, spritzen die Ameisen mit Ameisensäure. Der Specht hebt die Flügel und »badet« sich darin von allen Seiten. · Bild: TashaBubo - Shutterstock.com
Parasitenabwehr mit Ameisensäure, Kräutern, Harz und Zitronenöl
Wildschweine wälzen sich in Ameisenhaufen oder wühlen darin - und lassen sich von den Ameisen, die sich gegen die Angreifer verteidigen, mit Ameisensäure besprühen, um sich vor lästigen Parasiten wie Zecken, Läusen oder Milben zu schützen.
Auch zahlreiche Vögel wie Eichelhäher, Grün- und Buntspechte oder Krähen setzen sich auf Ameisenhaufen und lassen sich von allen Seiten mit Ameisensäure besprühen - als Schutz vor Parasiten. Amseln stecken sich Ameisen zwischen die Federn.
Stare legen ihre Nester mit frischen Kräutern wie wilder Möhre aus. Wilde Möhre enthält das Steroid B-Sistosterol, das Milben und Läuse abweist. Versuche haben ergeben, dass eine Brut in diesen Nestern viel weniger befallen ist.
Bären reiben sich stark duftendes Harz oder Zitronenöl ins Fell - das wirkt antiseptisch bei Insektenstichen und vertreibt viele Parasiten.
Biber nutzen Weidenrinde gegen Schmerzen
Biber knabbern Weidenrinde und Mädesüß gegen Schmerzen. Beide Pflanzen enthalten Salicylsäure, das natürliche Aspirin, das auch antientzündlich wirkt. Verletzte Gämsen wälzen sich in Alpenwegerich: er wirkt blutstillend und wundheilend.
Wildtiere, aber auch unsere Haustiere, wissen offenbar sehr gut, wie sie natürliche Heilmittel anwenden können. Forscher rätseln, woher die Tiere dieses Wissen haben. Ist es zum Teil angeboren? Fest steht, dass viele Tiere das Wissen über Heilpflanzen auch von Artgenossen und durch Erfahrung lernen, was Intelligenz bzw. kognitive Fähigkeiten voraussetzt. Oder verfügen Tiere über Intuition? Sind sie mit einem höheren Bewusstsein der Natur verbunden? Jedenfalls hoffen Wissenschaftler, durch genaue Beobachtung von Tieren - zum Beispiel von Schimpansen - auch neue Arzneistoffe für den Menschen erschließen zu können.
Quellen:
· Wenn ein Biber Kopfschmerz hat. Frankfurter Rundschau, 30.9.2020
· Tiere nutzen die Natur als Apotheke. Die ganze Woche Nr. 42/2020
· Das medizinische Wissen der Tiere. Bayerischer Rundfunk, 30.4.2018
· Selbstmedikation: Heilkundige im Tierreich. SPEKTRUM, 28.4.2018